Vorzeitsaga 09 - Das Volk des Nebels
aushalten konnte, ohne zu schreien. Man hatte ihn tätowiert, und am Ende hatte ihn der Priester mit einem magischen Stab erschlagen, um die Seele des Jungen aus seinem Körper zu treiben. Danach hatte er in einem schmerzhaften Zustand der Betäubung dagelegen, während sein Körper schwarz bemalt worden war wie eine Leiche und Totenlieder über ihm und seinen Gefährten gesungen wurden. Er hatte tagelang gefastet und geweihten Stechapfel- und Stechpalmenblättertee getrunken. Dann hatte der Priester ihn mit einer Peitsche auf die Füße gezwungen, ihn mit Wasser begossen und Tabakrauch über ihn geblasen, um seinen Leib zu reinigen.
Die schwarze Todesfarbe war abgewaschen worden, und dann hatte man ihn mit dem Rot der Blutkrautwurzel bemalt und mit Bärenfett eingerieben. Aus dem Knaben war ein Mann geworden.
Seit dieser Zeit hatte Weidenstumpf sich der Jagd gewidmet. Vor dem Altar von Okeus hatte er gelobt, der beste Jäger im Grünstein-Clan zu werden. Tag für Tag war er durch die Wälder gepirscht, um Vollkommenheit zu erlangen. Er drang in das Wesen des Hirsches, des Bären und des Rotluchses ein; seine Seele wurde eins mit dem Wald. In seinem Herzen war er völlig besessen gewesen, dass wachsender Ruhm ihm Beachtung einbringen würde, sodass er sich an Muschelkamm wenden dürfte, sobald Rote Schlinge zur Frau geworden war.
Lautlos wie Rauch glitt er über eine kleine Lichtung zwischen die Bäume, gleich einem Schatten, der durch das Zwielicht huscht, und folgte den kleinen herzförmigen Spuren eines Hirsches.
Seinen Augen entging nicht das kleinste Zeichen, seine Ohren fingen das schwächste Geräusch auf. Er fand eine Losung und betastete sie, um festzustellen, wie warm sie war. Der Hirsch musste jetzt ganz in der Nähe sein.
Weidenstumpf schnupperte in die feuchte Luft, um festzustellen, aus welcher Richtung der Wind kam.
Vor ihm gabelte sich der Pfad. Er wandte sich nach rechts. Dort standen einige Eichen, und der Hirsch würde einer verlockenden Mahlzeit aus Eicheln sicher nicht widerstehen können, bevor er sich in seiner Deckung aus dichtem Weißdomgestrüpp und Rispengras zur Ruhe legen würde.
Weidenstumpf stieg den Hang hinauf. Durch die kahlen Zweige hindurch sah er unter Nebelfetzen die silbern schimmernde Bucht unter sich liegen. Plötzlich knackte ein Zweig hinter ihm. Langsam wandte er den Kopf.
Nur eine Bogenschussweite entfernt stand die Hirschkuh am Rand des Eichenwäldchens, witternd und lauschend.
Weidenstumpf erstarrte. Die erste Welle der Erregung auf dieser Jagd erfasste ihn. Erst als die Hirschkuh den Kopf zu einer Eichel hinabbeugte, schob er sich langsam einen Schritt näher. Eine zweite Hirschkuh trat ins Bild, ein Kitz neben sich. Er wartete, bis sie ebenfalls den Kopf senkte, um hinter einen riesigen Rotahorn zu treten.
Jetzt sah er nur noch die Hirschkühe, der Rest der Welt verschwand aus seinem Bewusstsein.
Behutsam, Schritt für Schritt, schob er sich näher, überquerte den Pfad, der hinab zum Austernsteg führte, und huschte in den Schutz einer uralten Buche. Geduldig wandte er langsam den Kopf zur Seite und sah einen jungen Bock, einen Spießer, nur fünfzehn Schritt entfernt; das Tier scharrte im Laub und suchte nach vergrabenen Bucheckern. Weidenstumpf schob den linken Fuß um den Baum herum und machte sich für den Schuss bereit. Voller Vorfreude verlagerte er sein Gewicht und zog den rechten Fuß nach. Mit erhobenem Bogen zog er den Pfeil bis zum Ohr zurück und zielte über den Schaft. Noch ein letzter Atemzug … er nahm mit der Pfeilspitze den Rücken des Tieres ins Visier, um die Krümmung der Flugbahn auszugleichen.
Dies war der Augenblick, für den er gelebt hatte. Jetzt bist du mein!
Der Bock riss den Kopf hoch, spitzte die Ohren und starrte hinauf zum Hügel, alle Muskeln gespannt.
Als Weidenstumpf den tödlichen Pfeil fliegen ließ, sprang der Hirsch schnaubend davon. Der Pfeil beschrieb einen Boden und landete irgendwo in der Laubdecke.
Weidenstumpf stieß fauchend die Luft aus. Die übrigen Hirsche sprangen mit erhobenem Schwanz durch das Unterholz und verschwanden. Dann drang das Geräusch stampfender Mokassins, peitschender Zweige und keuchenden Atems an Weidenstumpfs Ohr. Er verzog das Gesicht und richtete sich auf. Welcher Dummkopf rannte an einem solchen Morgen durch den Wald? Aus Gewohnheit nahm er einen weiteren Pfeil aus dem Rindenköcher, der ihm über die Schulter hing.
Durch die Bäume hindurch erhaschte er einen flüchtigen Blick auf
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