Vorzeitsaga 09 - Das Volk des Nebels
Kälte mit den Zähnen klappernd und vollkommen entmutigt.
»Was hältst du davon?«, fragte Fliegende Fischreuse, als sie im Windschatten einer Esche kauerten und im Dunkeln nach Drei Myrten hinüber spähten.
Neuntöter wischte sich das Wasser aus dem gefühllosen Gesicht und blickte mit zusammengekniffenen Augen zu der Stelle, wo seines Wissens die Palisaden standen. »Ich höre keinen Laut. Nur ein Verrückter wäre bei so einem Wetter draußen. Aber vielleicht ist das gerade ein Segen, nach allem, was wir durchgemacht haben.«
»Ein Segen?« Fliegende Fischreuse wrang den Saum aus; das durchtränkte Leder quietschte in seinen Händen. »Meine Eier haben sich so mit Kälte vollgesogen, dass ich kaum schlucken kann.«
»Also, wenn du von der Sorte bist, die durch die Eier schluckt, dann weißt du ganz sicher nicht, was ein Segen ist, selbst wenn dir einer blüht.«
Wieder fegte ein Windstoß eiskalte Wassertropfen über sie hinweg. Neuntöter kauerte sich nieder und fuhr zusammen, als der Wind über ihn hinweg nach Drei Myrten peitschte. Er legte den Kopf zur Seite. Etwas bohrte in seinen Eingeweiden und versuchte, ihm etwas zu sagen. Er suchte den Himmel nach einem Anzeichen von Licht ab. Wie lange dauerte es noch bis zum Tagesanbruch? Das Wetter arbeitete gegen die Verteidiger von Drei Myrten, aber auch gegen die Angreifer. Sie durften keine Zeit verlieren. Durch den Einlass in den Palisaden zu Wilder Fuchs - er befand sich zweifellos im Großhaus von Schwarzer Dorn -, dann auf direktem Weg zurück zu den Kanus. Auf keinen Fall durften sie in der Dunkelheit die Orientierung verlieren.
Neuntöter starrte sorgenvoll in die undurchdringliche Finsternis.
»Also gut«, sagte er grollend zu Fliegende Fischreuse. »Der Wind kommt aus Norden, bläst uns in den Kücken und zum Dorf hinüber. Er zeigt uns die Richtung. Nach meiner Erinnerung ist es zu den Palisaden nicht weiter als ein Bogenschuss. Wir fassen uns an den Händen, damit wir uns nicht verlieren. Ich mache den Anfang. An den Palisaden tasten wir uns bis zum Einlass und warten, bis wir genügend Licht haben. Dann können wir sie überrumpeln.«
»Gut«, murmelte Fliegende Fischreuse. Seine Stimme klang nicht überzeugt, aber er gab den Befehl weiter.
»Auf geht's!« Neuntöter nahm die Hand von Fliegende Fischreuse und ging vorsichtig in die undurchdringliche Dunkelheit, mit den Füßen den Weg ertastend. Das Dunkel lastete auf ihm, als wollte es seine Seele erdrücken. Er spürte, wie Fliegende Fischreuse erschauerte; er selbst zitterte so sehr, dass seine Zähne klapperten.
Schritt für Schritt gingen sie weiter, und das flaue Gefühl in Neuntöters Magengrube wurde stärker.
Was hatte das zu bedeuten? Hier gab es doch keinen Graben … oder? Nein, da war nichts, woran er sich erinnern konnte.
Langsam baute die Erinnerung ein Bild von einem Sommertag vor noch nicht allzu langer Zeit: Drei fröhliche Kinder, die mit bellenden Hunden umhertollten, sie spielten, trieben einen Ball mit Stecken über die Sandbänke, und die Hunde bellten und bellten …
»Bleib stehen!«, zischte Neuntöter und drückte die Hand von Fliegende Fischreuse.
»Was ist?«
Neuntöter legte den Kopf auf die Seite, und ihm wurde langsam klar, was ihn so verunsicherte. »Der Wind … in unserem Rücken - und kein Hund wittert uns, kein Hund bellt.«
»Vielleicht sind sie alle in den Häusern?« Fliegende Fischreuse stand mit hochgezogenen Schultern im Schneegestöber.
Neuntöter spürte das Unbehagen seiner durchnässten Krieger. Seine Angst übertrug sich auf sie.
»Denk nach, Fliegende Fischreuse. Du kennst Schwarzer Dorn. Er erwartet etwas. Hätte er sonst die Hunde eingeschlossen?«
»Ich … hm. Nein. Hätte er nicht. Nicht er, der mit uns gegen Wasserschlange gekämpft hat.«
Neuntöter biss sich auf die Lippen. Ein kleines Rinnsal lief ihm über die Wange und in den Nacken.
»Das ist eine Falle«, schloss er. »Da hält den Hunden jemand die Schnauzen zu. Dreh um. Der letzte Mann soll uns einen Weg zurück zu den Bäumen suchen. Wir müssen unseren Plan ändern.«
»Bist du sicher? Wenn wir …«
»Der wartet auf uns! Wenn wir dort hineingehen, werden wir abgeschnitten, eingeschlossen und abgeschossen wie ein Haufen dämlicher Wachteln. Los, beeil dich!«
Neuntöter spürte, wie der Mut seiner Kriegern sank und ihre letzten Hoffnungen wie das Wasser versickerten, das ihnen über die kalte Haut strömte.
Ein Überraschungsüberfall war nun nicht mehr
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