Vorzeitsaga 09 - Das Volk des Nebels
gemeldet. Wir gingen hinauf, sahen uns um und fanden die Stelle, wo das Mädchen getötet wurde. Rote Schlinge hatte ein Halsband in der Hand, eins mit einem Haifischzahn, Perlen und …«
Sonnenmuschel zog hörbar den Atem ein.
»Ja, Mädchen?«, fragte Neuntöter.
»Nichts, ich … ist nur die Kälte.« Sie zog den Umhang am Hals fester zusammen, aber ihr Gesicht wirkte eingefallen, die Augen waren weit aufgerissen.
Neuntöter fuhr fort: »Ich will meine Abneigung gegen Kupferdonner nicht verhehlen, aber ich hatte in jedem Fall erwartet, dass ihn der Mord an der Frau, die ihm versprochen war, etwas mehr bestürzt.
Jagender Falke spielt ihr eigenes undurchsichtiges Spiel; auch sie scheint nicht übermäßig bedrückt.
Muschelkamm andererseits - sie war immer ein Hitzkopf - wollte sich sofort auf Maisjäger stürzen.
Sie ist überzeugt davon, dass Amselflügels Krieger das Mädchen getötet haben.«
»Kupferdonner riet nicht zum Krieg?«
»Nein. Er ist wie eine springende Spinne, die abwartet und aus einer Borkenspalte heraus ihre Umgebung beobachtet. Der rührt sich nicht, bis die Beute ohne Deckung in Reichweite ist.«
»So wie die Sonne im Osten erwacht…« Jaguar seufzte und ließ eine Schulter kreisen, als schmerzten ihn die Knochen.
»Wie war das?«
»Ach nichts.« Jaguar wehrte ab. »Bei jeder Blätterblüte auf meiner Insel habe ich mich während all der Blätterblüten gefragt, warum ich die Welt hinter mir gelassen habe. Jetzt erinnere ich mich. Wegen der Menschen. Die Welt ändert sich nicht.«
»Wir sind so, wie wir sind, Ältester, wir stammen von Okeus ab und leben in der Welt, die er mitgestaltet hat.«
»Und das werde ich ihm nie verzeihen.« Jaguar lachte heiser in sich hinein. »Also, jedenfalls scheint auch dir etwas in diesem Durcheinander nicht ganz geheuer zu sein, Häuptling, wie? Ich habe das Gefühl, aus verschiedenen Richtungen ruft da jemand im dicken Nebel, um zu verhindern, dass wir klar sehen.« Er kratzte sich unter dem Arm; der Feuerschein spiegelte sich in seinen alten Augen.
»Wer hätte den größten Nutzen von Rote Schlinges Tod?«
»Der Mamanatowick. Er hätte jedes mögliche Bündnis mit Kupferdonner zunichte gemacht und außerdem die Unabhängigen Dörfer in Verwirrung gestürzt. Aber auch Wilder Fuchs hatte Gründe, sie zu töten, denn er verlor die Frau, die er liebte. Vielleicht war es auch Kupferdonner; möglicherweise spielt er ein Spiel, das wir nicht verstehen.«
»Weidenstumpf«, flüsterte Sonnenmuschel.
Jaguar wandte sich zu ihr um. »Weidenstumpf? Der Jäger, der die Leiche fand?«
Sonnenmuschel strich über ihre Keule. »Er … nun ja, er liebte sie auch. Er versuchte immer, Rote Schlinge zu imponieren. Wenn sie ihre Blicke auf Wilder Fuchs richtete … Es gab Auseinandersetzungen. Weidenstumpf sagte einmal zu Wilder Fuchs, er solle sie in Ruhe lassen oder er werde dafür sorgen, dass Wilder Fuchs nie wieder auch nur in die Nähe von Flache Perle gelangen könne.«
Jaguar hob eine Braue. »Mit diesem jungen Mann muss ich ein Gespräch führen.«
»Ein Gespräch?«, fragte Neuntöter.
Jaguar lächelte grimmig und rieb sich die Hände. »Aber natürlich, Häuptling. Wie ich schon sagte, ich will dieser Sache auf den Grund gehen, wohin sie mich auch führen mag. Schon als ich heute Morgen eintraf, bemerkte ich, dass der Nebel jedermann die Sicht nimmt, sogar dir, mein guter Häuptling. Jetzt bin ich neugierig geworden. Und du wirst zugeben, dass ich doch derjenige bin, der den Nebel am ehesten zu durchdringen vermag.«
»Und was verlangst du von mir?«
Jaguar lächelte verhalten. »Nur zwei Dinge. Erstens: deine Hilfe. Zweitens: deine Aufrichtigkeit, Häuptling.«
Es ist schon sehr merkwürdig, wie sich die Dinge zusammenfügen, dachte Jaguar, als er mit Sonnenmuschel über die brachliegenden Tabakfelder zu den Palisaden von Drei Myrten ging.
Neuntöter hätte auch ein großmäuliger, hochmütiger Anführer sein können, einer von der Sorte, die mit Stolz geschwellter Brust große Reden führten und von sich selbst nur allzu überzeugt sind.
Stattdessen hatte er einen sachlichen, nachdenklichen Mann getroffen.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Sonnenmuschel. Es wurde schon dämmerig.
»Was jeder vernünftige Mensch mit einem Feuer macht, das außer Kontrolle zu geraten droht. Wir schütten etwas Wasser darauf. Wie können wir die Witterung vom Mörder dieses Mädchens aufnehmen, wenn sich die Krieger gegenseitig umbringen und sich Blutfehde
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