Vorzeitsaga 09 - Das Volk des Nebels
ihm einerseits, seine Macht zu genießen. Andererseits stand ihm wegen der ständig drohenden Gefahr ein über das normale Maß hinausgehender Anteil an den Tributen, die nach Süden gingen, zu.
Im Laufe der Zeit hatte sein einst muskulöser Leib an Masse gewonnen, und die Fülle seiner Macht schien sich in der dicken Fettschicht auf seinem Körper zu spiegeln. Die Tätowierungen waren ebenfalls in die Breite gegangen und unter dem seit vielen Blätterblüten auf die Haut aufgetragenen Rot der Blutkrautwurzel nur noch undeutlich zu erkennen.
Die hängenden Backen ließen das Gesicht aufgedunsen erscheinen. Kleine braune Dachsaugen funkelten auf beiden Seiten einer platt gedrückten Nase, die ihm, Gerüchten zufolge, ein Angreifer mit einer Keule eingeschlagen hatte, als Maisjäger ein junger Mann gewesen war. Er bevorzugte fein gewebte und leuchtend bunte Gewänder vor gegerbten Fellen mit der Begründung, dass sich der Stoff wärmer, leichter und angenehmer anfühle. Wie viele andere mächtige Männer ergötzte er sich an Schmuck aus Kupfer und Zinn. Er bestreute sich mit glitzerndem Antimonstaub und liebte es, sich farbige Ammer-, Falken- und Eichelhäherfedern im Haar festzustecken. Seine sieben Frauen sorgten dafür, dass die rechte Schädelseite sauber geschoren blieb und verbrachten Stunden mit der Gestaltung seiner berühmten Haartracht.
Amselflügel war Maisjäger gegenüber immer misstrauisch gewesen, und seit seiner Ernennung zum Kriegs-Häuptling hatte sein Argwohn zugenommen. Etwas in diesen kleinen schwarzen Augen verursachte ihm großes Unbehagen. Maisjäger konnte noch so sehr lächeln und seine Arbeit loben - Amselflügel traute dem Mann nicht über den Weg.
Der Weroanzi starrte ihn nun unverwandt an, die dickliche rechte Hand auf einem mächtigen Knie.
Mit der Linken hielt er die Hand von Rotelster, die neben ihm stand und Amselflügel ebenfalls scharf ansah. Sie war Maisjägers erste Frau, zehn Blätterblüten älter als er, grauhaarig, schlank, mit schmalem Gesicht. Hinter ihnen standen seine übrigen sechs Frauen und seine älteren Kinder.
»Wir konnten nichts tun«, sagte Amselflügel. Er wurde rot vor Verlegenheit und tadelte sich deswegen. »Sie hatten uns umzingelt, bevor wir die Waffen heben konnten. Als ob er gewusst hätte, dass wir kommen.«
»Tatsächlich?« Maisjäger grinste höhnisch.
Amselflügel schaute sich in dem vollen Langhaus um. »Ich nehme an, Entenmuschel ist nicht mehr unter uns?«
»Nein.« Maisjäger bewegte sich nicht, nur sein Daumen strich über den Handrücken von Rotelster.
»Er ging fort, einen Tag nach deinem Aufbruch. Wahrscheinlich nach Süden. Sicher, um dem Mamanatowick mit den Geschichten über Jagender Falke und Kupferdonner und der geplanten Heirat die Ohren Vollzuplappern.«
»Bist du sicher, dass er sich nach Süden wandte?«
Maisjäger blinzelte träge, wie eine Schildkröte an einem kalten Morgen. Er gab keine Antwort. Das war nicht nötig.
»Welch ein Jammer.« Amselflügel seufzte. »Wäre schön, wenn man es ihm anhängen könnte.«
»Du wurdest also umzingelt?«
»Ja, Weroanzi. Ich hatte keine Wahl. Ich gab die Botschaft an Kriegshäuptling Neuntöter weiter.
Wenn wir mit Gewalt in ihr Territorium vorgedrungen wären, hätte es einen schweren Kampf mit vielen Toten gegeben, und wir hätten nicht sicher sein können, dass deine Botschaft ihren Empfänger erreichte.« Amselflügel lächelte grimmig. »Tote sind bekanntlich keine guten Vortragskünstler.«
Der starre Blick von Maisjäger bohrte sich in Amselflügels Seele. Diese Augen hätten auch aus poliertem Stein sein können, so gefühllos blickten sie. Amselflügel drückte die Knie durch und versuchte, die aufsteigende Furcht zu bezähmen.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis Rotelster sich niederbeugte und Maisjäger etwas ins Ohr flüsterte. Der Weroanzi nickte kurz; ein gekünsteltes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Nein, Tote sind keine guten Vortragskünstler. Aber mein Kriegshäuptling ist offenbar auch keiner.«
Amselflügel biss die Zähne zusammen und wippte auf seinen Fersen hin und her.
Maisjägers lächelnder Mund weitete sich. »Also schön. Du bist nicht zum Kriegshäuptling ernannt worden, um mir Geschichten zu erzählen. Du bist Kriegshäuptling, um Kämpfe zu gewinnen, und da du aus deinem Versagen kein Hehl machst, brauche ich immerhin nicht zu fürchten, dass du hinter meinem Rücken Ränke spinnst. Und deswegen, Häuptling, kann ich dir
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