Vorzeitsaga 09 - Das Volk des Nebels
wohl. Er tätschelte es sanft, seine Seele war voller Frieden.
Was war das für ein merkwürdiges Verlangen, das ein Mensch empfand, der dicht neben einem anderen lag? Gedankenverloren spielte er mit einer Strähne ihres glänzenden schwarzen Haares und beobachtete, wie sich ihre Brust sanft hob und senkte. Es war kein sinnliches Verlangen, nicht in seinem Alter und bestimmt nicht nach einem so unreifen und verrückten Mädchen wie Sonnenmuschel. Es war vielmehr eine elementare Sehnsucht, eine Leere, die im Innersten der menschlichen Seele nach Erfüllung schrie, ein Bedürfnis zu berühren, jemanden zu halten und einen anderen Menschen bei sich zu spüren. Es war ein besänftigendes Gefühl, fast wie Balsam auf der klaffenden Wunde, die ihm vor langer Zeit geschlagen worden war.
Jaguar tätschelte Sonnenmuschel erneut und zog das muffige Hirschfell zurück, das nach Rauch, Schweiß und Moder roch. Das Licht von oben strahlte durch die eckigen Abzugslöcher, vom Rauch in blauen Dunst verwandelt. Der Wächter, ein anderer jetzt, beobachtete ihn misstrauisch.
Jaguar hatte die Gastfreundschaft von Schwarzer Dorn in der Hoffnung angenommen, dass er noch einmal ein Wort mit der alten Sklavin wechseln könnte. Jetzt, da die Morgenfeuer angefacht waren und ihre Funken zum Dach spuckten, hatte er dazu nicht nur keine Gelegenheit gefunden, sondern, schlimmer noch, er hatte sich das Geschwätz von Wilder Fuchs anhören müssen. Wie hätte er sich auch zu der Alten schleichen sollen, wo er und Sonnenmuschel die ganze Nacht über von den Wächtern beobachtet wurden? Sie hatten sich nicht einmal unauffällig verhalten. Ein bewaffneter Krieger hatte nur ein paar Armlängen von ihrem Schlafpodest entfernt gestanden, den schussfertigen Bogen in einer Hand, die mit Stacheln besetzte Kriegskeule in der anderen. Als Riesenbrüller zu gähnen und zu blinzeln begann, hatte ihn ein anderer gerade ausgeschlafener und wachsamer Krieger abgelöst.
In späteren Zeiten würde sich Jaguar sicherlich belustigt an all dies erinnern, aber im Augenblick knurrte er seinen Ärger in sich hinein. Sein Leben lang hatte er nie in Gegenwart eines bewaffneten, feindseligen Mannes schlafen müssen, der ihn ausdruckslos und mit harten schwarzen Augen argwöhnisch anstarrte. Wie brachte es ein Mensch fertig zu schlafen, wenn er wusste, dass ein unwillkürliches Lippenzucken oder ein geschnaufter Schnarchlaut den Posten vielleicht dazu verleitete, ihm den Schädel einzuschlagen?
Die Hexerei brachte zweifellos Nachteile mit sich.
»In Flache Perle werde ich mich richtig ausschlafen«, murmelte er vor sich hin und rieb sich mit den schwieligen Händen das Gesicht. Sonnenmuschel regte sich, als er über sie kroch und aufstand, um sich zu strecken. Sie blinzelte und blickte mit unschuldigen Augen lächelnd zu ihm auf.
»Mädchen, ich möchte, dass du Neuntöter suchst. Sag ihm, ich wolle hier mit ihm sprechen.«
»Ja, Ältester.« Sie gähnte und streckte sich mit geballten Fäusten. Sie ergriff eine Decke und ging zur Tür.
»Kehr schnell wieder zurück.«
»Ja, Ältester.«
Gleich darauf trat Schwarzer Dorn geduckt durch den Vorhang, nachdem er sein morgendliches Geschäft erledigt hatte. Der Weroanzi ließ sich auf den Matten auf der anderen Seite des Feuers nieder. »Das Frühstück wird bald fertig sein. Meine Sklavinnen wärmen die Reste des Festessens auf.«
»Da ist sicher nicht mehr viel übrig.«
»Diese Flachperlen-Männer, die haben gefressen wie die Bären im Herbst. Wie immer.« Schwarzer Dorn hob eine Braue und ließ ein zufriedenes Lächeln auf seinem Gesicht erscheinen. »Tatsächlich bin ich recht zufrieden damit, dass ich sie gespeist habe. Hätten wir sie gestern umgebracht, würde ich mich kaum so wohl fühlen.«
»Willst du damit sagen, dass Neuntöters Kopf besser auf seinen Schultern aufgehoben ist als auf einer Stange vor deinem Großhaus?«
»Ja, ich glaube schon.« Schwarzer Dorn sah ihn ernsthaft an. »Jedenfalls vielen Dank für deinen Hinweis.«
»Ich habe dir nur geholfen zu tun, was dein Herz ohnehin tun wollte. Aber wir müssen uns noch unseren Weg durch dieses Durcheinander bahnen, Weroanzi. Der Nebel, der uns die Sicht nimmt, ist heute noch so dicht wie gestern. Wenn wir aber unsere Sicht wiedergewinnen, ist es möglich, dass wir plötzlich Dinge sehen, die sehr abstoßend sind.«
»Ja, das ist wahr. Aber wenn es diese Dinge wirklich gibt, dann findest du sie in Flache Perle. Nicht hier.«
»Wahrscheinlich.
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