Vorzeitsaga 10 - Das Volk der Masken
Ein weißes Fellbüschel, das er sich aus dem Fuchsumhang gerissen hatte, saß wie eine kleine Kappe auf dem abgebrochenen Ast. »Polterer? Hast du dir weh getan?«
Er steckte die Hände unter die Achseln und ließ sich mitten auf dem matschigen Pfad auf die Knie sinken. Sich vor- und zurückwiegend flüsterte er mit klappernden Zähnen: »Mir ist so k-kalt.« Zaunkönig rannte zu ihm hin; ihre völlig durchnässten Mokassins sanken knöcheltief in den morastigen Boden ein. Sein hübsches rundes Gesicht war so weiß wie der Bauch einer Elster und seine schwarzen Augen glitzerten wie bei einem Fiebernden.
»Polterer?« Sie zog ihre Handschuhe aus und befühlte seine Stirn. »Polterer, du hast ja Fieber! Wann hat das angefangen? Ich habe gar nicht bemerkt…«
»Es-es sind m-meine Hände«, stammelte er und wimmerte leise, als er sie unter seinen Achseln hervorzog.
Zaunkönig kniete sich vor ihn in den Schnee, nahm seine rechte Hand in die ihre und untersuchte sie ganz vorsichtig, um ihm nicht unnötig weh zu tun. Der Daumen und der Zeigefinger sahen ganz gut aus, doch die schwarzen Spitzen der nächsten beiden Finger waren auf die dreifache Größe angeschwollen und mussten dringend abgenommen werden. Und vom kleinen Finger würde man sogar zwei Glieder abhacken müssen. Seine linke Hand sah noch schlimmer aus. Dort würde er alle Fingerkuppen verlieren und zwei Glieder des kleinen Fingers.
»Ich kann sie nicht mehr abbiegen«, stöhnte er. Heute morgen, als ich aufwachte, brannten sie wie Feuer. Und es wird immer ärger.«
»Das kommt, weil sie allmählich wieder auftauen«, erklärte sie ihm und legte seine Hand behutsam in seinen Schoß zurück. Angst fraß sich in ihre Seelen. Sie hatte alle Werkzeuge dabei, die sie brauchen würde, doch die Vorstellung, Polterer die Fingerknöchel abzuhacken, versetzte sie in Panik. Schön, sie hatte viele Tiere zerlegt, Enten, Rehe, Bären und zahlreiche andere kleinere Tiere wie Kaninchen und Eichhörnchen, aber die waren tot gewesen. Was würde geschehen, wenn sie es nicht über sich brächte, an einem lebenden Menschen zu hantieren? Oder aber wenn die Blutung sich nicht stillen ließe - falls sie tatsächlich den Mut aufbrächte, die notwendige Amputation vorzunehmen?
»Polterer, meinst du, ich sollte … ich glaube, es ist wahrscheinlich höchste Zeit.«
»Ja, bitte. Tu es schnell, Kleiner Zaunkönig«, sagte er und schob entschlossen das Kinn vor. Zaunkönig sah sich nach einem Lagerplatz um und entdeckte ganz in der Nähe vier Sassafras-Bäume, in deren Mitte sich eine kleine, sonnige Lichtung auftat. Die getrockneten Früchte an den Zweigen schimmerten purpurn. »Dieser Platz da drüben sieht mir recht trocken aus«, meinte sie. »Komm, wir lassen uns dort unter den Bäumen nieder.«
Polterer versuchte aufzustehen, doch seine zitternden Beine trugen ihn nicht mehr. Zaunkönig nahm seinen linken Arm, half ihm hoch und führte ihn zu der sonnendurchfluteten Lichtung. Die Wurzeln der Sassafras-Bäume waren unter der Erde zusammengewachsen, hatten den Boden gehoben und einen kleinen Wall gebildet, der etwas höher lag als der übrige Waldboden, so dass dort der Schnee bereits geschmolzen und der Boden trocken war. Unter dem größten Baum setzte Zaunkönig Polterer ab; er lehnte sich seufzend zurück und schloss die Augen.
Während sie ihr Bündel von den Schultern gleiten ließ und es neben Polterer auf den Boden legte, sagte sie zu ihm: »Ich gehe schnell etwas Holz sammeln. Bin gleich wieder zurück.« »D-danke… Zaunkönig.«
Sie ging nur bis zum nächsten Sassafras-Baum, brach alle abgestorbenen Äste ab, an die sie heranreichte, und häufte sie neben ihrem Bündel auf. Polterer hatte immer noch die Augen geschlossen und die Unterlippe zwischen die Zähne geklemmt.
»Ich beeile mich«, sagte Zaunkönig, Zuversicht in ihre Stimme zwingend. Sie schnürte ihr Bündel auf und nahm ihr Feuerbrett und den Hartholzstab heraus. »Wenn meine Mutter erfrorene Fingerglieder abnimmt, stillt sie anschließend die Blutung mit glühender Kohle.«
Polterer begann im Takt seines Herzschlages vor und zurück zu schaukeln. Vor und zurück. Schweißperlen schimmerten auf seinem Nasenrücken. »Mach bitte schnell!«
Als die dürren Sassafras-Zweige knisternd und Funken sprühend Feuer gefangen hatten, entnahm sie ihrem Bündel eine Schnur aus Lindenholzfasern, eine gut geschärfte Klinge aus Quarzgestein, so lang wie ihr Handteller, und zwei Finger breit und eine
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