Vorzeitsaga 10 - Das Volk der Masken
dann mit festem Druck durch das Gelenk. Das Glied löste sich vom Finger und rollte über die Granitplatte. Mit zitternden Fingern legte Zaunkönig es auf den Boden und machte sich rasch an den nächsten Finger. Als sie mit der linken Hand fertig "war, ließ sie die Steinklinge fallen und griff nach einem Stock. Damit schob sie einige Glutstücke in die bereitstehende Holzschale, stellte sie auf die Granitplatte und hob Polterers linke Hand hoch, um anschließend die blutenden Stümpfe auf die Glut zu drücken. Doch sie zögerte einen Augenblick. Tränen schössen ihr in die Augen. Oh, Gauner, bitte… »Polterer, ich… ich kann nicht…«
Da entzog Polterer ihr seine Hand und senkte die Fingerkuppen sanft wie ein Schmetterling, der auf einer Blüte landet, auf die glühenden Kohlen.
»Das reicht schon!«, rief Zaunkönig, als ihr der Geruch verbrannten Fleisches in die Nase stieg, und riss seine linke Hand aus der Schale.
Ohne mit der Wimper zu zucken legte Polterer die andere Hand auf den Stein und spreizte die Finger. Zaunkönig machte sich wieder an ihr grausames Werk, säbelte, schnitt und hackte, so rasch sie konnte. Als das letzte Fingerglied abgenommen war, drückte sie die einzelnen Wundstümpfe auf die Kohlen, gerade so lange, bis die Blutung gestillt war. Dann ließ sie seine Hand los und sackte in sich zusammen.
Beißender Rauch qualmte aus der Schale, doch Zaunkönig hatte nicht die Kraft, die Glut wieder ins Feuer zu schütten. Sie lag so, wie sie umgesunken war, im matschigen Schnee, rang nach Luft und lauschte dem trällernden Gesang der Vögel. nach und nach hüpften die Finken auf tiefere Äste herab, als wollten sie Polterer aus nächster Nähe betrachten, und drehten dabei neugierig die kleinen Köpfchen hin und her. Blut war auf den weißen Fuchsumhang gespritzt, und auch sein rundes Gesicht war rot gesprenkelt.
Vorsichtig bewegte Polterer die verbliebenen Glieder seiner Finger, ehe er sich vorbeugte und mit sichtlich erstaunter Miene die abgetrennten schwarzen Stummel betrachtete, die auf und neben dem Granitstein lagen.
Dann fuhr sein Kopf in die Höhe. Sein Blick starrte ins Nichts.
Zaunkönig setzte sich alarmiert auf. »Was ist denn, Polterer?
Was …«
»Meine Augen… sie… sie fliegen, Zaunkönig. Sie fliegen…
ganz weit weg.«
Zaunkönig verschränkte die Arme unter ihrem Umhang und beugte sich vor, um dem Zittern Einhalt zu gebieten, das ihren ganzen Körper schüttelte. »Wo sind sie? Was sehen sie?«
Sein Mund öffnete sich, aber er antwortete zunächst nicht. Die schwarzen Augen weiteten sich, bis sie sein halbes Gesicht auszufüllen schienen. Dann murmelte er leise: »Wir dürfen nicht länger den Angestammten Pfaden folgen, Zaunkönig. Dort werden sie als erstes nach uns suchen. Es gibt… es gibt einen anderen Weg. Die Tiere werden ihn uns weisen.«
»Müssen wir…«
Plötzlich fielen Polterer die Augen zu, und er kippte langsam zur Seite.
Zaunkönig schnappte nach Luft und stürzte von Panik ergriffen zu ihm hin, doch dann sah sie, dass seine Brust sich in gleichmäßigem Rhythmus hob und senkte. »Ehrwürdige Ahnen«, wisperte sie. »Polterer, ich dachte schon, du wärst tot.«
Zärtlich berührte sie sein verschwitztes Haar. Im Lauf des letzten halben Mondes hatte sie ihn sehr lieb gewonnen - beinahe so wie einen Bruder.
Auf einmal erhoben sich die Finken flatternd aus den Bäumen, stiegen auf und segelten gen Osten davon.
Neugierig geworden hielt sie nach dem Wiesel und dem Habicht Ausschau. Den Habicht konnte sie nirgendwo entdecken, doch winzige Trippelspuren im Schnee markierten den Weg auf dem sich das Wiesel davongemacht hatte.
Nachdenklich studierte Zaunkönig die kleinen Pfotenabdrücke. Hatte Polterers Vater, der böse Waldgeist, wirklich die Tiere geschickt, oder waren sie einfach nur von ihrem Geruch angelockt worden? Finken und Eichelhäher suchten oft die Nähe von Menschen, weil sie auf Brotkrumen oder andere Leckerbissen hofften. Das Wiesel und der Habicht… nun, das waren Tiere, die auf lebende Beute aus waren. Vielleicht hatte der Geruch von Polterers faulenden Fingerkuppen oder der Duft ihrer Wegzehrung sie hergetrieben.
Zaunkönig hob die Holzschüssel hoch und stellte fest, dass eines der Glutstücke ein Loch in den Boden gebrannt hatte. Sie schnitt eine resignierte Grimasse und warf die Schüssel ins Feuer. Sie hatte ja noch ihre Teeschale. Aus der konnte sie trinken und auch essen.
Flammen züngelten um den Rand der Schüssel,
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