Vorzeitsaga 10 - Das Volk der Masken
ersten Strahlen der Morgensonne glitzerten auf der spiegelglatten Oberfläche des Leafing Lake und brachen sich auf den Paddeln der Wanderer-Krieger.
Elchgeweih kauerte im Heck des Kanus und passte ihre Schläge dem Rhythmus von Eichel an, der vor ihr im Bug kniete. Kräftige Muskelstränge wölbten sich unter den Schultern seines Lederhemds, wenn er sein Paddel eintauchte und durchs Wasser zog. Sein Hemd war nassgeschwitzt, und auch auf dem Haarkamm und den rasierten Seiten seines Schädels schimmerten Schweißperlen.
Sie hatten ein hartes Tempo eingehalten, erst lange nach Einbruch der Dunkelheit Rast gemacht und waren bereits vor dem ersten Tageslicht wieder aufgebrochen, um den Spuren von Blauer Rabe entlang des Ufers zu folgen.
Sich an seine Fersen zu heften war, als liefe man einem drei Winter alten Kleinkind hinterher. Elchgeweih ärgerte sich jedes Mal, wenn sie einen seiner Lagerplätze entdeckten.
Während sie die südliche Spitze des Leafing Lake ansteuerten, schlössen die anderen neun Kriegskanus auf und schnitten dabei glitzernde Bugwellen, die Elchgeweihs Kanu zum Schaukeln brachten, in das glasklare Wasser. Das Kanu von Springender Dachs bildete die Nachhut. Er saß im Bug, den stinkenden Kopf von Lahmer Hirsch vor sich aufgespießt, und überließ Der auf dem Bären reitet allein das kräftezehrende Paddeln. Ein unheimliches Schweigen hielt den Kriegsführer umfangen. Seit drei Nächten hatte er zu keinem seiner Krieger auch nur ein Wort gesagt - hingegen flüsterte er unaufhörlich mit dem verwesenden Kopf von Lahmer Hirsch.
Elchgeweih hatte schon öfter von solchen Zustanden gehört, sie wusste, dass Männer ihre Seelen verlieren konnten, aber sie hatte noch nie …«
»Seht nur!«, rief Pfauenauge, der sie gerade überholt hatte. Vor ihnen am Ufer lag ein Kanu. »Komm, Eichel. Mal sehen, wer zuerst dort ist«, feuerte sie ihn an.
Eichel nickte und beugte sich nach vorn, um seinen kraftvollen Paddelschlag zu verstärken. Wie ein Pfeil schoss das Kanu durchs Wasser.
Maishülse winkte den Kindern zu, die hinter den Ältesten am äußersten Rand der Feuerstelle saßen, wo sie der Lichtschein gerade noch erreichte. Helle Aufregung erfüllte das Langhaus, alle Augen waren gespannt auf den Händler gerichtet. »Kommt näher heran, ihr Kleinen. Diese Geschichte ist auch was für euch.«
Drei kleine Mädchen drängelten sich neugierig nach vorn und kuschelten sich in den Schoß ihrer Eltern oder Großeltern. Das Mädchen zu Maishülses Linken, mit Zöpfen, die bis auf den Boden reichten, schob einen Finger in den Mund und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Brust ihrer Großmutter. Die Großmutter, eine der Anführerinnen, die den Namen Goldamsel trug, stützte das Kinn auf den Scheitel ihrer Enkeltochter. Kurzes, graues Haar umrahmte ihr steinaltes Gesicht. Bedächtig ließ Maishülse den Blick über seine Zuhörerschaft schweifen. Vor drei Hand Zeit war er im Karpfendorf eingetroffen und hatte ein paar Tauschgeschäfte abgewickelt; anschließend hatte Anführerin Goldamsel ihn in ihr Langhaus eingeladen. Wenn alles nach seinen Vorstellungen lief, würde er noch die ganze Nacht hindurch Handel treiben. Hatten die Leute hier erst einmal seine aufregenden Geschichten gehört, würden sie ihre wertvollsten Güter anschleppen und beinahe nichts als Gegengabe verlangen.
»Nun, Händler«, begann Goldamsel. »Du hast versprochen, uns Neuigkeiten vom Wandererdorf zu berichten. Wir haben schon etliche Gerüchte gehört, aber ich bezweifle, dass sie wahr sind. Bitte, lass uns an deinen Erfahrungen teilhaben.«
Maishülse kniff die ohnehin schmalen Augen zusammen und flüsterte theatralisch: »Spitzt die Ohren, Leute. Ich habe euch eine Geschichte von großem Kummer und Leid zu berichten.« Blaue, rote und gelbe Hemden leuchteten im Feuerschein auf, als die Leute sich vorbeugten, um besser hören zu können. Bunte Perlen schimmerten. Muschelohrringe klimperten.
Dann senkte sich gespanntes Schweigen über das Langhaus. Genau wie Maishülse es beabsichtigt hatte.
Ganz bewusst sah er den Leuten in der ersten Reihe tief in die Augen, als er zu sprechen anhob: »Ich war selbst dort und habe das Dorf erst verlassen, nachdem es ein tödlicher Schneesturm dem Erdboden gleichgemacht hatte. Was ich euch erzähle, ist kein Gerücht. Es ist die Wahrheit. Die schreckliche Wahrheit. Die wahre Geschichte des Verrats und der Feigheit eines Häuptlings. Die wahre Geschichte des unheilvollen Hasses eines kleinen
Weitere Kostenlose Bücher