Vorzeitsaga 10 - Das Volk der Masken
»Der Weg beginnt gleich hinter einer vom Blitz beschädigten Rottanne. Dort gibt es eine Kuhle, die sich ein Wolf als Schlafplatz gegraben hat…«
Springender Dachs lag in seine Decken gewickelt am Feuer, eine Armlänge von dem Haufen mit Feuerholz entfernt. In regelmäßigen Abständen legte er Äste und Zweige nach, um die Flammen in Gang zu halten. Das bedeutete natürlich, dass er es sich nicht erlauben konnte, in einen tiefen Schlaf zu fallen, und dieser Umstand zeigte bereits seine Wirkung. Die dunklen Ringe unter seinen Augen hatten sich zu schwarzen Flecken ausgewachsen, und seine Hände zitterten ohne Unterlass. Den Holzpfahl mit dem Schädel von Lahmer Hirsch hatte er drei Schritte von seinem Lager entfernt in eine Schneewehe gesteckt. Der Schein des Feuers flackerte über die eingesunkenen Augenhöhlen und das herabhängende Fleisch. An dem Schädel war kaum noch ein Haar, und selbst die nächsten Angehörigen hätten Lahmer Hirsch nicht mehr erkannt.
Bald wirst du dich auch nicht mehr wieder erkennen, flüsterte die grässliche Stimme. Du hörst die da draußen, nicht wahr? Bald. Bald werden sie über dich herfallen wie mit Klauen bewehrte Ungeheuer
Springender Dachs zog sich die Decken bis ans Kinn hoch, Die Dunkelheit hinter dem Feuerschein wisperte und kicherte, die Geister in den Schatten ließen ihn keinen Moment aus den Augen. Seit Tagen strömten sie herbei, einer nach dem anderen, gesellten sich zu Wilde Rose und warteten auf Silberner Sperlings Befehl zum Angriff.
Ja, du siehst sie, nicht wahr?
»Halt den Mund, du Narr«, herrschte Springender Dachs den Kopf an. »Schläfst du eigentlich nie?« Er wünschte, er wüsste von einem frischen Grab in der Nähe. Dann könnte er die Geister aufhalten. Ein alter Zauberer, mit Namen Tänzelnder Baum, hatte ihm gezeigt, wie man das machte. Zum ersten Mal war Springender Dachs ihm in seinem achten Winter gefolgt. Heimlich. Eines Abends hatte der dürre, grauhaarige Greis das Wandererdorf verlassen und sich in die Nacht hinausgeschlichen. Und Springender Dachs hatte sich im Schein des Mondes an seine Fersen geheftet. Anfangs hatte sich der Alte wie eine Katze fortbewegt, weiche Pfoten ohne Krallen. Dann war er wie ein Hund getrottet; die Krallenabdrücke hatten sich tief in die feuchte Erde gegraben. Drei Hand Zeit später hatte er den alten Mann auf einem Bestattungsplatz angetroffen, wo er allein vor einem kochenden Topf hockte. Ein unheimliches Grinsen verzerrte dabei sein zahnloses Gesicht. Nachdem Springender Dachs sich näher herangeschlichen hatte sah er die Knochen, die um den Topf herumlagen, und die Löcher in der Erde. In dem Topf kochte das Fleisch der Kinder, die der Alte aus ihren Gräbern ausgegraben hatte. Als Springender Dachs das hämische Lachen vernahm, brüllte er Lahmer Hirsch an: »Ich wünschte, wir wären im Buntfelsendorf! Dort gibt es jede Menge Kinderleichen. Vor deinen Augen würde ich ihre Herzen essen und Dolche aus ihre Knochen schnitzen, mit denen ich dich anschließend töten könnte!«
Etliche der in ihre Felldecken gewickelten Krieger warfen sich murrend auf ihrem Lager herum oder hielten sich die Ohren zu. Springender Dachs schaute sich nach Elchgeweih um und fand sie, wie jede Nacht, auf der anderen Seite der Feuerstelle sitzend und ihn beobachtend. Ihre dunklen Augen funkelten.
»Schläfst du auch nie, alte Frau? Hör auf, mich anzustarren!« Seine Stimme war immer lauter geworden, bis das letzte Wort wie ein Schrei aus seinem Munde gellte.
Eichel wühlte sich aus seinen Decken und stapfte schlaftrunken in den Wald, entfernte sich so weit wie möglich, ohne den sicheren Umkreis des Lagers zu verlassen. Anscheinend war er auf einen Kameraden getroffen, denn der eisige Nachtwind trug sein Flüstern herüber. »Ich weiß nicht… verrückt…«, sagte er.
Der andere Krieger antwortete etwas, das Springender Dachs jedoch nicht verstehen konnte. Seufzend rollte er sich auf den Rücken und stierte hinauf zu den Höfen der Nachtwanderer. So nahe am Feuer konnte er nur die hellsten ihrer Behausungen erkennen. Sie schimmerten wie Entendaunen im Sonnenlicht.
Seltsamerweise - aber das geschah in Nächten wie diesen häufig - dachte er an seine frühere Ehefrau und berührte instinktiv die Narbe, die sich über seine Kehle zog. Hohler Hügel war die erste gewesen, die herausgefunden hatte, dass er mit Geistern sprechen konnte. Alles, was er brauchte, war ein Haarbüschel oder ein Zahn eines lebenden Menschen, um diesen
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