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Vorzeitsaga 10 - Das Volk der Masken

Vorzeitsaga 10 - Das Volk der Masken

Titel: Vorzeitsaga 10 - Das Volk der Masken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gear & Gear
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schössen durch das Loch in die Höhe, und gleich darauf brannte das ganze Ding lichterloh.
    Zaunkönig warf wieder einen Blick zu Polterer hinüber und auf seine verstümmelten Hände. Aus der Wunde am Mittelfinger seiner rechten Hand sickerte noch ein wenig Blut. Aber das würde bald von selbst aufhören. An der linken Hand hatte er am kleinen Finger zwei Glieder verloren, an den übrigen jeweils eines. An der rechten Hand fehlten an allen Fingern mit Ausnahme des Zeigefingers die letzten Glieder. Den Zeigefinger hatte er bei der Prozedur wahrscheinlich unter dem Daumen verborgen, um ihn zu schützen.
    Zaunkönig schüttelte den Kopf, überrascht, dass sie tatsächlich fähig gewesen war, diese brutale, aber notwendige Handlung vorzunehmen.
    Als sie sich herabbeugte und die einzelnen Fingerglieder aufsammelte, durchfuhr sie ein plötzlicher Schauder. Die abgeschnittenen Glieder fühlten sich merkwürdig unmenschlich an, kalt und aufgebläht. Aber sie hielt sie fest in der Hand. Blut abzugeben war eine heilige Handlung. Es nährte Großmutter Erde und die Kreaturen, die sie liebte. In erster Linie waren die Frauen für das Spenden von Blut verantwortlich. Jeden Monat sammelten sie ihre blutigen Binden, wrangen sie aus und trugen das Blut in einer Schale auf die Äcker, wo sie es über dem Erdreich verteilten. Die Heiligen Schwestern, Mais, Bohne und Kürbis, brauchten dieses Blut, um ihre Kinder zu ernähren und anschließend die Menschen mit einer reichen Ernte zu belohnen. Zaunkönig hatte von ihrer Mutter gelernt, dass im Himmel und auf der Erde alles in genau festgesetzten Zirkeln verlief. »Das ist das Geheimnis des Lebens, meine Tochter.«
    Schweigend trug Zaunkönig die abgetrennten Fingerglieder an den Rand der Lichtung und grub unter einem der Sassafras-Bäume ein Loch. Als sie die Opfergaben dort hineinlegte, dachte sie an ihre Mutter. Sie wäre heute bestimmt stolz auf ihre Tochter gewesen.
    Der Gedanke zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht.
    Zaunkönig füllte das Loch wieder mit Erde auf und blieb noch einen Moment davor sitzen. Sonnenlicht sprenkelte den Waldboden, überzog das Laub und die trockenen Zweige mit seinem goldenen Glanz. Traurig dachte sie an ihre Familie, die sie verloren hatte. An ihren Klan und an Onkel Blauer Rabe. Er musste außer sich sein vor Sorge um sie; wegen ihres Verschwindens und der Möglichkeit, dass Springender Dachs sie finden und zurück ins Wandererdorf schleppen könnte. Zaunkönig hob den Kopf, und während sie ihren Blick durch den unbekannten Wald und über die Hügelkette in der Ferne schweifen ließ, überfiel sie ein solches Heimweh, dass sie glaubte, daran sterben zu müssen.
    Erschöpft legte sie sich hin und bettete ihre Wange auf den sanft duftenden Waldboden. Erinnerungen stiegen in ihr hoch, nagten und pickten an ihren Seelen. Sie konnte sich nicht dagegen wehren. Seit Tagen hatte sie sie unterdrückt, doch jetzt waren sie zu übermächtig geworden.
    Ganz still lag sie da, mit dem Gesicht auf der Erde. Die Sonne goss ihre wärmenden Strahlen über sie aus, während sie an Menschen dachte, die gestorben waren, und an warme Langhäuser, die sie nie wieder sehen würde - Gedanken, die ihr schier das Herz zerrissen.
    Es verging einige Zeit, bis sie sich wieder aufsetzte und feststellte, dass Polterer sie anstarrte. Er lag auf der Seite, und seine schwarzen Augen glitzerten im Schein des Feuers.
    »Ich werde deine Familie sein, Zaunkönig«, sagte er leise »Das verspreche ich dir.« Himmelbogens Gesicht erschien auf ihren Seelen, und ein Gefühl endloser Verzweiflung ergriff sie; wie die Wellen, die entstehen, wenn man einen Stein in einen Teich wirft, durchflutete sie ihren Körper, lief an ihren Knochen entlang, drang ihr bis in die Fingerspitzen und die Zehen und sammelte sich schließlich in ihrem Kopf.
    »Ich habe Angst, Polterer«, flüsterte sie und wischte sich die Erde von der Wange. »Ich werde nicht zulassen, dass dir irgendjemand weh tut, Zaunkönig, solange ich lebe.« Sie dankte ihm mit einem schwachen Lächeln und stand auf. »Wie fühlst du dich? Fliegen deine Augen noch umher?«
    Polterer schüttelte den Kopf. »Nein, sie sind wieder zurück. Komm, ich zeige dir lieber gleich den Weg, den sie gesehen haben. Manchmal vergesse ich nämlich Dinge, nachdem die Macht der Papyasamen meinen Körper verlassen hat.«
    Zaunkönig hockte sich neben ihn auf den Boden.
    Mit seinem einzigen gesunden Finger fing er an, Linien auf der weichen Erde zu ziehen.

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