Vorzeitsaga 10 - Das Volk der Masken
und wurde plötzlich von einem Gefühl der Einsamkeit überfallen, das so stark war, dass sie glaubte, es zerrisse ihr das Herz. Onkel Blauer Rabe war tot. Gauner war tot. Ihre Eltern und ihr kleiner Bruder waren tot. Und Polterer…
Sie schluckte heftig gegen diesen überwältigenden Schmerz an und fand die Kraft zu sagen: »Halt mich … Bitte, halt mich fest.«
31. Kapitel
Das Licht der ersten Morgendämmerung ergoss sich über den See und verwandelte ihn in ein Meer von glitzernden Amethysten. Aschenmond und Polterer hockten auf dem schmalen Sandstreifen zwischen dem Wasser und dem Schnee und kümmerten sich um das Morgenfeuer. Die Wellen hatten sich in den frühen Morgenstunden beruhigt und rollten die Kiesel nun mit einem leisen Klickern den Strand hinauf und hinunter.
Aschenmond warf einen Blick in den Teekessel und den Kochtopf, die am Rand der Feuerstelle über der Glut hingen und zu dampfen begannen. Sie legte noch mehr Treibholz nach, bis orangerote Flammen wie Zungen an den rußigen Töpfen leckten. Schüsseln, Teeschalen und Holzlöffel lagen schon bereit. Sperling war vor etwa einer halben Hand Zeit, gleich nachdem sie Rast gemacht hatten, zum Jagen aufgebrochen und noch nicht wieder zurückgekehrt.
Polterer saß Aschenmond gegenüber und sein Blick haftete unbeweglich auf Zaunkönigs Bündel. Es lag aufgeschnürt neben der Feuergrube. Ein Zipfel von seinem schwarzen Hemd lugte heraus; es war gewaschen und sorgfältig zusammengefaltet. Aschenmond hatte das Bündel durchsucht, etliche leere Vorratspäckchen gefunden und eines, in dem sich noch eine Hand voll Maismehl befand. Mehr nicht. Ein sorgenvoller Ausdruck lastete auf seinem runden Gesicht. »Das ist dein Hemd, nicht wahr?«, fragte sie den Jungen.
Polterer nickte. Er zog die Knie unter dem Fuchsumhang an und stützte das Kinn auf. Die weiße Kapuze, die sein rundes Gesicht einhüllte, ließ sein kinnlanges Haar noch schwärzer erscheinen. »Es war schmutzig. Zaunkönig hat mir eins von ihr Hemden gegeben.«
Die Liebe in seiner Stimme rührte Aschenmond.
»Und ihren Umhang hat sie dir auch gegeben, stimmt's?«
Anders konnte es nicht sein. Der Umhang war so geschnitten, dass er einem Mädchen bis an die Hüfte reichte, doch Polterer schlackerte er um die Knöchel.
»Ja«, sagte er leise. »Ich habe so gefroren. Zaunkönig hat sich mit dem Hirschlederumhang begnügt. Manchmal hat sie die ganze Nacht vor Kälte mit den Zähnen geklappert, Großmutter.« Aschenmond ging ums Feuer herum und hockte sich neben ihn in den Sand. Der Duft des Fichtennadeltees stieg ihr in die Nase.
»Ich bin froh, dass sich Zaunkönig so gut um dich gekümmert hat.«
Polterer rieb seine dicken Backen an dem weichen Fuchsfell über seinen Knien. Hinter ihm, am Horizont, schössen die ersten Sonnenstrahlen wie Lanzen über den Himmel. Die Glanzlichter auf dem Wasser wechselten von Amethyst zu einem blassen gelb. »Zaunkönig ist meine beste Freundin.« »Ich danke den Geistern, dass du eine so gute Freundin gefunden hast. Als wir erfuhren, dass du entführt worden bist und die Wanderer beschlossen haben, dich zu töten …«
»Nicht alle Leute des Wanderer-Klans, Großmutter. Zaunkönigs Onkel hat seine Leute gebeten, mir nichts zu tun - und Zaunkönig hat mir heimlich Essen gebracht, als ich auf dem Lost Hill gefesselt war.«
Aschenmond zog einen Ast aus dem Holzhaufen zu ihrer Rechten und stocherte damit in der Glut. Funken stoben auf und erloschen knisternd. So hatte er also die bittere Kälte und den Wind überstehen können. Geheiligte Ahnen, wenn einer der Klan-Angehörigen Zaunkönig dabei erwischt hätte, wie sie einem verurteilten Kind Essen brachte, wäre sie schwer bestraft, wenn nicht sogar getötet worden. Eine sanfte, nach Seewasser riechende Brise zauste Aschenmonds graue Stirnfransen. »Hat Blauer Rabe dich denn nicht bewacht! Wie hat Zaunkönig es denn angestellt, dir etwas zu Essen zu bringen, wenn «
»Zaunkönig ist ein schlaues Mädchen, Großmutter«, erklärte Polterer. »Abends, wenn es dunkel war, hat sie für ihren Onkel immer Feuer gemacht und so viel Holz aufgelegt, dass die flammen ihn blendeten. Dann ist sie auf dem Bauch zu mir hergekrochen. Sie hat immer diesen weißen Umhang getragen, deshalb konnte ihr Onkel sie im Schnee nicht sehen. Ich konnte sie selbst kaum entdecken.« Sein dankbarer Gesichtsausdruck ließ Aschenmond das Herz schwer werden. Sie neigte den Kopf zur Seite. »Dazu braucht man wirklich Mut.«
Polterer besah
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