Vorzeitsaga 10 - Das Volk der Masken
schwarzen Augen loderte die Angst. Im Laufe der vergangenen sechs Nächte waren seine Schreie immer schriller geworden. Blauer Rabe verstand das nicht. Inzwischen sollte der Junge kaum noch genug Kraft haben, um Atem zu holen. Blauer Rabe blinzelte und zwang sich, den Blickkontakt mit Polterer abzubrechen. Jedesmal, wenn er in die Augen des Jungen blickte, lief ein Feuerstrom an seinen Knochen entlang, kroch durch seine zitternden Muskeln und löste in seinem Herzen eine Feuersbrunst aus, die ihn am ganzen Körper vor Schmerz erzittern ließ.
Er bewegte die Finger in seinen Handschuhen und ging im Geiste noch einmal die Geschichten durch, die seine Mutter ihm erzählt hatte. Geschichten, die sie aus Silberner Sperlings eigenem Mund gehört hatten - über Polterers Vater, den bösen Waldgeist, der nachts an das Lager seines Sohnes trat und ihm Dinge ins Ohr flüsterte, und dass die Nachtwanderer die Befehle des Jungen ausführten. Jeder einzelne, der es je gewagt hatte, dem Jungen Schaden zuzufügen, war auf abscheuliche Weise zu Tode gekommen - das jedenfalls erzählte man sich.
Blauer Rabe legte nachdenklich die Stirn in Falten.
Ein silberner Lichtstreif lag schimmernd über dem Pipe Stern Lake. Am Ufer standen Männer und fischten. Die Ausbeute musste mager sein, denn sonst wären sie längst zurück im Dorf, um das Abendessen vorzubereiten. Blauer Rabe versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, wenn er jetzt zu Hause sein könnte, in warme Decken gehüllt an lodernden Feuer sitzend; wenn er Frost-auf-den-Weiden berichten könnte, dass die Wache beendet sei und dass sie alle wieder ruhig schlafen könnten. Ach, er wünschte…
Zwei kleine Fäuste, mit einem kurzen Lederriemen an einen Holzpflock gefesselt, brachen durch die Schneedecke, die Finger streckten sich, versuchten zu greifen.
»Lahmer Hirsch«, schrie Polterer. Er warf sich hin und her, zerrte an den Fesseln, schluchzte atemlos. Da Polterer den auf einen Pfahl gespießten Kopf von Lahmer Hirsch auf dem Dorfplatz gesehen hatte, vermutete Blauer Rabe, dass der Junge nach Lahmer Hirschs Geist rief. Dieser grauenvolle Anblick, oder die Kälte und der Hunger, hatten dem Jungen anscheinend die Sinne geraubt. »Ehrwürdige Ahnen«, flüsterte Blauer Rabe verzweifelt. »Warum dauert das denn so lange? Es ist Winter. Dem Jungen sollte doch schon längst das Mark in den Knochen gefroren sein.« Eine Windbö fegte über den Abhang, und Blauer Rabe wandte den Kopf ab. Als er sich wieder umdrehte, war Polterer von einer dicken Schneewehe bedeckt. So weich und ungebrochen lag sie da, als habe es den Jungen nie gegeben.
Während Blauer Rabe nachdenklich die Schneewehe betrachtete, erhob sich aus den Wipfeln der Bäume oben auf dem Hügel eine graue Eule und segelte lautlos auf die Stelle zu, an der Polterer unter dem Schnee begraben lag. Der Vogel zog einen Kreis, schlug einmal mit den Flügeln und ließ sich dann sanft auf der Brust des Jungen nieder.
Es war, als hätte der Anblick der Eule Blauer Rabes Seelen von seinem Körper gelöst, denn plötzlich schien er hoch über der Erde zu schweben, ihm war wohlig warm, und auch der Sturmwind beutelte ihn nicht mehr. Graue Haarsträhnen tanzten vor seinen Augen, aber die sah er kaum. Die Eule schlug noch einmal kräftig mit den Flügeln und wirbelte den Schnee von Polterers Gesicht und Brust. Dann hüpfte sie weiter und setzte sich auf den Holzpflock, an den Polterers Füße gefesselt waren. Mit einem gespenstischen Hu-huu erhob sich wenig später in die Lüfte und segelte lautlos durch das dichte Schneetreiben davon.
»Hör auf, dich wie ein Narr zu benehmen«, befahl sich Blauer Rabe mit heiserer Stimme. »Eulen sind Raubvögel. Aasfresser. Der Vogel dachte wahrscheinlich, dass der Junge tot sei, und hoffte auf eine Mahlzeit. Bestimmt war er sehr enttäuscht, als er merkte, dass der Junge noch lebte. Es…« Aus den Tiefen seiner Seelen hörte er die krächzende Stimme seines alten Großvaters: Du hast jetzt dreizehn Winter gesehen, Enkel. Es ist an der Zeit, dass du etwas über die seltsamen Wege der Götter lernst. Du wirst jetzt deine erste Wache halten. Bewache das Kind. Beschütze es vor hungrigen Tieren. Sorge dafür, dass niemand dem Säugling nahe kommt, bis er tot ist. Das ist deine Aufgabe als Wächter. Es mögen merkwürdige Dinge geschehen. Das passiert häufig. Aber jedes Vorkommnis ist eine Prüfung. Die Götter werden dich beobachten. Lass dich durch nichts von der Erfüllung deiner Pflicht
Weitere Kostenlose Bücher