Vorzeitsaga 10 - Das Volk der Masken
weshalb Onkel Blauer Rabe sie einst so geliebt hatte.
Elchgeweih sorgt sich um die Menschen. Sie versteht, was in ihren Seelen vor sich geht. Genau wie Onkel. Sie sollte die Krieger anführen.
Als Zaunkönig in die Runde blickte, konnte sie ihre Gedanken auch in den Gesichtern vieler anderer Krieger lesen. Und Springender Dachs offenbar ebenfalls. Seine Kiefer unter der sonnenverbrannten Haut begannen erregt zu mahlen.
Kurz darauf rief er, den Kopf von Lahmer Hirsch in die Höhe gereckt: »Also schön, stimmen wir ab! Wer von euch will an meiner Seite gegen die Feiglinge aus dem Nebelschleierdorf kämpfen, die das Falschgesicht-Kind beschützen? Wer von euch ist bereit, mich dabei zu unterstützen, das Falschgesicht-Kind zu töten?«
»Wir wissen nicht, ob sie den Jungen beschützen …«, begann Elchgeweih.
»Wer von euch folgt mir?«, brüllte Springender Dachs in die Menge, ohne ihren Einwand zu beachten. »Wer von euch fühlt sich den Anordnungen der Anführerinnen des Wandererklans verpflichtet?« Zaunkönig beobachtete gespannt, wie die Männer die Köpfe einzogen, nervös von einem Bein aufs andere traten und sich schließlich wie geprügelte Hunde hinter Springender Dachs aufreihten. Etliche jedoch entschieden sich, Elchgeweih zu folgen.
Nachdem die Krieger die Seiten gewählt hatten, drehte Springender Dachs sich um, zählte seine Männer und verkündete mit gewichtiger Stimme: »Zwölf tapfere Krieger stehen hinter mir, Elchgeweih. Du bringst es nur auf acht.«
Sie nickte, doch ihr Gesichtsausdruck war eiskalt. »Wir werden zu unseren Verwandten stehen, wie wir es immer getan haben«, erklärte sie. »Aber viele hervorragende Krieger werden sterben, Springender Dachs, und daran trägst du die Schuld.«
»Ja, nur zu, Elchgeweih, mach mir nur Vorhaltungen. Was kümmert mich das schon? Erfüll du nur deine Pflicht gegenüber deinen Leuten. Wir müssen das Falschgesicht-Kind töten, ehe auch noch der Rest unseres Klans stirbt!«
Damit drehte Springender Dachs sich auf dem Absatz um und stapfte das Ufer entlang, gefolgt von seinen Mannen, die mit freudlosen Mienen hinter ihm her trotteten.
Elchgeweih blickte in die Runde der Krieger, die sich ihr angeschlossen hatten und sagte: »Wir haben alle unsere Entscheidung kund getan. Und selbst wenn uns das Ergebnis nicht gefällt, sind wir dazu verpflichtet, unseren Angehörigen zu helfen. Kommt. Lasst uns den anderen folgen.« Mit diesen Worten führte Elchgeweih die Männer an, ein zügiges Marschtempo einschlagend. Eichel zog Zaunkönig auf die Füße, um sich der Gruppe anzuschließen.
Doch Zaunkönig, deren Kopf dröhnte, als würden darin tausend Trommeln geschlagen, und der vom schnellen Aufstehen ganz schwindlig geworden war, knickten immer wieder die Knie ein. Sie taumelte von einer Seite auf die andere, trat aus Versehen in ein tiefes Loch, das einer von Eichels Mokassins hinterlassen hatte, und fiel der Länge nach in den Sand. Eichel zerrte sie noch zwei Schritte hinter sich her, dann blieb er stehen.
Ungehalten drehte er sich zu ihr um, die Lippen zusammengepresst, und plötzlich schössen Zaunkönig die Tränen in die Augen.
Er warf der Kriegertruppe, die rasch voranschritt, einen resignierten Blick hinterher und beugte sich über Zaunkönig. Der Haarkamm, der längs über seinen rasierten Schädel verlief, glänzte im Sonnenlicht.
»Mein Kopf«, wimmerte Zaunkönig mit heiserer Stimme. »Er tut so schrecklich weh.« »Kleiner Zaunkönig, ich kann dich nicht tragen. Ich muss meine Hände frei haben, um meinen Bogen abschießen zu können. Aber wir dürfen auch nicht hundert Schritte hinter den anderen her trödeln. Falls sie uns angreifen, werden wir beide die ersten sein, auf die sie zielen. Verstehst du das?«
»Ja.«
»Und, was soll ich jetzt mit dir machen?«
»Lass mich hier. Lass mich einfach hier.«
»Das geht nicht. Auf keinen Fall. Und wenn ich Springender Dachs erzähle, dass du nicht mit uns Schritt halten kannst, wird er dich töten.«
Zaunkönig biss die Zähne zusammen und rappelte sich hoch, um beim nächsten Schritt, von Schwindel und Übelkeit gepeinigt, wieder hinzufallen. Dann erbrach sie sich. Eine Weile blieb sie im feuchten Sand liegen, bis sie genug Kraft gesammelt hatte, um es noch einmal zu versuchen. Als sie dann aufstand, gehorchten ihr ihre Beine. »Es geht schon wieder«, wisperte sie mit dünner Stimme. Eichel musterte ihr verschwollenes Gesicht. »Wollen wir's hoffen. Denn wenn du noch mal zusammenklappst,
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