Voyeur
Oder, besser gesagt, ich schaute sie zum ersten
Mal richtig an. Ich bemerkte Dinge, die mir vorher nie aufgefallen waren, weder an ihr noch an anderen Menschen. Jeden Morgen
wartete ich gespannt darauf, dass sie in die Galerie kam, und fragte mich, was sie anhaben würde und ob sie ihr Haar zurückgebunden
hatte oder offen trug. Mir fiel auf, wie sich ihre Kleider an ihren Körper schmiegten, wenn sie sich bewegte, und dass
sie einen ganz besonderen, eigenen Geruch hatte. Alles an ihr schien vollkommen zu sein.
Doch es war eine harmlose Besessenheit. Ich kannte meine Grenzen und hatte keinerlei Ambitionen, sie zu meiner Geliebten
zu machen. Ein solcher Gedanke lag so weit außerhalb meines Erfahrungsbereiches, dass er praktisch unvorstellbar war. Das
Beste, was ich jemals zu erhoffen wagte, war, ihr Freund zu werden, und zu diesem Zweck bemühte ich mich darum, die Zurückhaltung
aufzubrechen, die zwischen uns bestanden hatte. Es war erstaunlich einfach. Das Schwerste daran war, mein plötzliches Interesse
nicht zu offensichtlich erscheinen zu lassen. Ich hätte sie stundenlang beobachten |28| und mich an jeder ihrer unbewussten Bewegungen erfreuen können, um sie für spätere, private Nachbetrachtungen im Geiste
zu bewahren. Die feine Struktur ihres Halses oder ein paar Zentimeter nackter Haut konnten mich für Stunden in den Bann ziehen.
Ständig war ich mir ihres Körpers unter der Kleidung bewusst, die nur das zu betonen schien, was sie verhüllte. Als sie
eines Tages ganz offensichtlich keinen BH trug, konnte ich meinen Blick kaum von dem Vibrieren und Schaukeln ihre Brüste
abwenden. Ich redete mir ein, es wäre ein Zeichen dafür, dass sie sich wohler zu fühlen begann. Tatsächlich hatte ich in
der Vergangenheit aber nie darauf geachtet, ob sie einen BH trug oder nicht.
Während sie in meiner Gegenwart entspannter wurde, erfuhr ich mehr über ihr Privatleben. Und besonders über Marty, ihren
Freund. Ihre Gefühle für ihn lagen auf der Hand, und je mehr ich erfuhr, desto neidischer wurde ich auf diesen mir unbekannten
Mann. Und neugieriger. Ich versuchte mir vorzustellen, wie er aussah, und machte mir im Geiste ein Bild von ihm: groß,
dunkelhaarig und gutaussehend. Ein männliches Ebenbild von Anna. Allein die Tatsache, dass er Amerikaner war, trübte dieses
Bild, aber das war wahrscheinlich nur meinen Vorurteilen zuzuschreiben. Der Mensch, den Anna liebte, musste etwas Besonderes
sein. Ich war mir sicher, dass sie sich nicht mit weniger zufriedengeben würde.
Dann bot sich die Gelegenheit, ihn kennenzulernen. Eines Nachmittags kam Anna zu mir. «Haben Sie heute Abend schon etwas
vor?», fragte sie.
Ich versuchte, meine plötzliche Aufregung zu verbergen. «Nein, eigentlich nicht. Weshalb?»
|29| «Also, dann könnten Sie mir einen schrecklich großen Gefallen tun. Aber nur, wenn es keine Umstände macht.»
«Bestimmt nicht. Worum geht es denn?»
«Eine Freundin von mir ist Künstlerin, und heute Abend ist ihre erste Ausstellung. Ich habe mich gefragt, ob Sie nicht vielleicht
vorbeischauen könnten, wenn Sie nichts anderes vorhaben? Sie ist echt nervös, deshalb wäre es gut, wenn möglichst viele
Leute kommen. Und da Sie ja ziemlich einflussreich sind, würde sie sich bestimmt freuen, wenn Sie da wären.»
Ich zitterte vor Freude. «Es wäre mir ein Vergnügen.»
«Es wäre wirklich kein Problem? Ich weiß, dass es sehr spontan ist.»
«Nein, wirklich, ich komme gern.»
Anna strahlte mich an. «Danke, das ist großartig! Marty hat gleich gesagt, dass Sie nichts dagegen haben würden.» Ich war
mir nicht sicher, ob mir die Bedeutung dessen gefiel oder nicht. Dann kam mir ein anderer Gedanke. «Wird Marty heute Abend
auch mitkommen?»
«Ja. Wir werden so gegen acht Uhr da sein. Aber Sie müssen nicht so früh kommen.»
Ich versicherte ihr, dass es nicht zu früh für mich wäre, und versuchte, aufmerksam ihrer Wegbeschreibung zum Ausstellungsort
zu folgen. Aber ich konnte mich nicht konzentrieren. Ich würde Annas Freund kennenlernen. Ihren Liebhaber.
Mit einem Mal war ich von großer Unruhe erfüllt.
*
|30| Die Ausstellung fand in einer kleinen Galerie in Camden statt. Ich kam kurz vor acht dort an. In meinem Magen rumorte es.
Seit dem Mittag hatte ich nichts gegessen, aber ich war zu nervös, um Hunger zu verspüren. Die Galerie wirkte einladend,
und als ich näher kam, konnte ich drinnen die Leute herumlaufen sehen. Ich spähte
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