Voyeur
verschwunden war, saß
ich in meinem Wagen und fuhr zu ihrer Wohnung.
Ich hatte mich nicht angemeldet. Aber nach dem Besuch der Polizisten war sie wütend und durcheinander gewesen, was mir eine
Ausrede gab, mich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Ich hatte keine Ahnung, ob sie überhaupt zu Hause sein würde, doch
ich wollte es versuchen, selbst wenn ich den Weg umsonst machte. Alles war besser, als allein dazusitzen und mir tausend
Szenarios vorzustellen, wie sie die Notizen entdeckte.
In ihrem Fenster brannte Licht. Erst war ich erleichtert, dann besorgt. Ich sagte mir, dass es noch zu früh dafür war und
sie noch nichts wissen konnte, doch allein die Möglichkeit reichte aus, um mein Herz rasen zu lassen, als ich die Stufen
zu ihrer Wohnung hinaufging. Ich versuchte, mich auf das Schlimmste |256| vorzubereiten, und spielte schon einmal durch, wie ich am besten reagierte, bevor ich an der Tür klingelte. Nach einer
Weile hörte ich drinnen Schritte. Dann öffnete Anna.
Ich sah sofort, dass etwas nicht stimmte. Ihr Gesicht war wie versteinert. Sie schien nicht einmal überrascht zu sein, mich
zu sehen.
«Hallo», sagte ich lässig, trotz meiner bösen Ahnungen. «Ich dachte, ich komme mal vorbei und schaue, wie es Ihnen geht.»
«Mir geht’s gut, danke.» Ihre Stimme klang seltsam reserviert. Sie trat einen Schritt zurück. «Kommen Sie rein. Martys Vater
ist hier.»
Sie schaute mir beim Sprechen direkt in die Augen, und ich verstand sofort den Grund für ihre Stimmung. Mir fiel eine Last
von den Schultern.
«Soll ich wieder gehen?», fragte ich beinahe flüsternd.
«Nein, schon in Ordnung. Ich glaube nicht, dass er noch lange bleibt.» Sie bemühte sich nicht, ihre Stimme zu senken. Ich
hob fragend meine Augenbrauen. Sie presste ihre Lippen zusammen und schüttelte kurz angewidert den Kopf, als sie sich umdrehte.
Ich schloss die Tür und folgte ihr ins Wohnzimmer. Westerman stand im Mantel da. Sein Mund war noch verkniffener als sonst.
Offensichtlich hatte ich sie mitten im Streit unterbrochen.
«Entschuldigen Sie, ich wollte nicht stören», sagte ich zu ihm. «Ich wusste nicht, dass Sie hier sind.»
«Mr. Westerman ist nur vorbeigekommen, um mir zu sagen, dass er morgen zurück nach Amerika fliegt», erklärte Anna. Westermans
Mund wurde noch schmaler.
|257| Ich schaute ihn fragend an. «Tatsächlich? Ich dachte, Sie wollten noch eine Woche bleiben?»
Anna schaltete sich ein, bevor er etwas sagen konnte. «Wollte er auch. Doch jetzt, wo er mit der Polizei gesprochen hat,
hat er beschlossen, früher abzureisen.»
Er warf ihr kurz einen bösen Blick zu und wandte sich dann an irgendeinen unbestimmten Punkt zwischen uns. «Ich sehe keinen
Grund mehr, meine Zeit zu verschwenden. Soweit es mich betrifft, weiß ich alles, was ich wissen muss. Oder wissen will.»
«Mr. Westerman hat gehört, dass Marty in Schwulenclubs gewesen ist, was ihn nicht erfreut hat.» Obwohl Anna mit mir sprach,
wandte sie ihren Blick nicht von ihm ab. Nun drehte Westerman sich um und schaute sie direkt an.
«Bestimmt erfährt kein Vater gern, dass sein Sohn homosexuell ist.»
«Ach, um Gottes willen!», platzte Anna heraus. «Das habe ich Ihnen doch schon erklärt! Er ist zu Recherchezwecken dort gewesen!»
«Recherchen!», schnaubte Westerman. «Es gibt nur einen Grund, warum Leute in solche Lokale gehen. Und wenn er die Gesellschaft
von Perversen der von anständigen Menschen vorzieht, kann er meinetwegen bei ihnen bleiben und verkommen.»
Anna kämpfte um ihre Selbstbeherrschung. «Hören Sie. Zum letzten Mal: Marty ist nicht homosexuell. Ich weiß nicht, wo er
sich befindet oder was ihm zugestoßen ist, aber ich weiß, dass es nichts damit zu hat. Wenn Sie mir nicht glauben, dann
fragen Sie in der Uni nach.»
|258| «Wozu? Wie man hört, sind britische Intellektuelle allesamt moralisch degenerierte Menschen und Päderasten.»
Anna schüttelte heftig den Kopf. «Ich glaube es einfach nicht! Marty wird
vermisst
! Spielt es da eine Rolle, was er getan hat oder mit wem er zu tun hatte?»
Westerman betrachtete sie triumphierend. «Für Sie offensichtlich nicht, aber ich kann glücklicherweise sagen, dass die Menschen
dort, wo ich herkomme, noch ein paar moralische Werte haben.»
«Moralische Werte?», wiederholte Anna ungläubig. «Wie können Sie über Moral sprechen, wenn Sie ihn einfach so im Stich lassen
wollen? Was hat denn das mit Moral zu tun?»
«Wesentlich
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