VT01 - Eine Wunde in der Erde
niemals endenden Routinen eines belanglosen Lebens, kehrten zögernd wieder. Ja. Es gab dieses Oben . Es war… anders.
Plötzlich wusste er, welchen Weg er nehmen musste, um den Anweisungen der Stimme zu folgen. Da war dieser eine Gang, der scheinbar im Nichts endete. Dort, so fiel ihm ein, befand sich ein besonderer Mechanismus. Hätte er doch nur noch ein wenig vom Wurm gehabt! Nahrung, die ihm Denken und Handeln erleichterte.
Es musste auch so gehen. Er marschierte also weiter, hinter sich die müden, schlürfenden Tritte der anderen.
***
»Warum lasst Ihr uns nicht endlich abreisen, Mademoiselle?«
Chérie tänzelte trotz seiner beachtlichen Leibesfülle leichtfüßig um sie herum und redete pausenlos auf sie ein.
»Mich interessiert dieses Schauspiel«, gab sie ausweichend zur Antwort.
»Aber das Risiko, meine Teure, und die Gefahr…«
»Die Gefahr, die Gefahr!«, äffte sie ihren Lakai nach. »Lass mich damit in Ruhe! Die Witveer sind ohnedies startbereit; uns geschieht schon nichts. Achte gefälligst meine Entscheidung. Wenn dir nicht passt, was ich befehle, dann steht es dir frei zu gehen.«
Zu gehen…
Chérie hörte auf herumzuhampeln. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer ängstlichen Fratze. Er wusste ganz genau, was sie damit meinte. Eine einzige weitere Bemerkung, die der Prinzessin missfiel – und sie würde ihn zum Vogelfreien erklären.
Lourdes kümmerte sich nicht weiter um den Jammerlappen. Das Schauspiel, das sich ihr bot, wirkte so… lebensnah. So ehrlich. Weitaus besser und interessanter als die Dinge in der Himmelsstadt Avignon-à-l’Hauteur, die von Intrigen, künstlicher Berauschung und Exzessen geprägt war.
Hitzewellen und seltsame Gerüche wehten heran. Sie brachten Gefühle von Aufregung und Sensation mit sich.
Ein einzeln stehender Baum, der sich gegen den nahen Horizont abzeichnete, wurde vom Feuermeer erreicht. Er flammte auf wie ein Glimmstängel und war binnen weniger Augenblicke von den brennenden Gesteinsmassen verschluckt.
Faszinierend.
Ein neues Geräusch übertönte alles andere. Es kam rollend, gemeinsam mit einer gewaltigen Wolke, die von der Seite her über das Feuer schäumte und plötzliche Kälte mit sich brachte.
Wasser! Myriaden von Regentropfen, vermischt mit Erde, Blattwerk, Steinen, geknicktem Holz und Staub.
Feuer und Wasser griffen einander an. Verschmolzen zu einer Masse, zu einer völlig losgelösten Sphäre, in der die Gesetze der Natur jegliche Bedeutung zu verlieren schienen. Der Boden unter Lourdes’ Füßen dröhnte, ächzte und schüttelte sich. Ein Erdstoß hob sie von den Beinen, warf sie und ihre Begleiter wie lästige Insekten durch die Luft.
Ein Spalt, mehrere Meter breit, tat sich auf. Er verschluckte drei Soldaten. Sie stürzten hinab, ohne die Zeit zu finden, einen Laut von sich zu geben. Lourdes hielt sich irgendwo fest, zog sich so rasch wie möglich von diesem Abgrund ohne Boden weg. Die Witveer krächzten entsetzt, waren nicht mehr zu bändigen. Eines der Tiere wurde von einem riesigen Feuerball, der wie ein Geschoss durch die Luft gewirbelt kam, getroffen. Der Lenker wurde unter den Massen begraben und war auf der Stelle tot. Der Vogel versuchte sein Heil in der Flucht. Sein schwer verletzter rechter Flügel ließ ihn im Anlauf taumeln und in eine weitere Erdspalte stürzen, die sich unweit von ihnen auftat.
Der Sprühnebel packte Lourdes wie in Watte ein und trennte sie von ihren Begleitern. Der Raum rings um sie schien eng und enger zu werden. Es war ihr, als säße sie in einer Kammer, deren Wände immer näher rückten.
»Prinzessin, wo seid Ihr?«, hörte sie die Stimme Chéries aus dem Dunkel, das mit dem Staub und Regen gekommen war.
»Hier!«, rief sie, immer wieder, bis der Lakai sie erreicht hatte.
Bot sie einen ähnlichen Anblick wie diese armselige Gestalt? Über und über von Staub und Schmutz bedeckt, dem grässlichen Sturm ausgesetzt, der einem das Haar zerzauste und das Make-up zerstörte?
»Weg von hier!«, rief der Dicke. Er zog Lourdes mit sich, und sie ließ es geschehen. Diese Situation, die sie vollends unter Kontrolle zu haben glaubte, war mit nichts vergleichbar, was sie jemals erlebt hatte.
Der Nebel wurde dichter. Die Luft glühte, um wenige Schritte später einem eisigen, feuchten Wind Platz zu machen. Nichts erschien in dieser unwirtlichen Scheinwelt noch sicher. Immer musste man darauf gefasst sein, wegzurutschen und irgendwo in Matschlöchern zu verschwinden oder von Gesteinsbrocken
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