VT01 - Eine Wunde in der Erde
warum…«
Wortlos drehte der Bärtige den Steuerbüttel zur Seite. Ein Aststück, so dick wie ein Speerschaft und nur wenige Zentimeter lang, stak in seinem Hals. Es musste ihn, von Flut und Sturm geschleudert, durchbohrt haben.
»Er konnte nicht mehr reden«, sagte Chérie. »Er bewegte sich auf Sie zu, Mademoiselle, um nach Hilfe zu flehen…«
Der Lakai taumelte ein paar Schritte beiseite, fiel auf die Knie und würgte seinen Mageninhalt hervor.
»Das wollte ich nicht«, sagte Lourdes leise. »Es… tut mir Leid …«
Irgendwie brachte sie die Kraft auf, Lomboko die Augen zu schließen. Die Soldaten legten ihn sanft zu Boden, traten einen Schritt zurück und erwiesen ihm mit angelegten Waffen die letzte Ehre.
Ich allein bin schuld am Tod des Steuerbüttels!, hämmerte es in Lourdes’ Kopf. Weil ich das Lager nicht rechtzeitig räumte, weil ich die nahende Katastrophe aus nächster Nähe sehen wollte.
Und… weil ich darauf wartete, ob und wann Kinga zurückkehrt.
Oft schon hatte sie Menschen sterben sehen, und auch bessere als den Raffzahn. Am Pranger, in den Gerechtigkeitssälen , im freien Feld bei Übungsschlachten oder in abstürzenden Rozieren. Doch niemals zuvor war ihr der Tod so nahe, so unmittelbar bewusst geworden.
»Ohne Verantwortungsbewusstsein und verwöhnt«, hatte Chérie über sie geurteilt.
Ihr selbst fielen weitere, wenig schmeichelhafte Attribute ein. Sie war selbstsüchtig, eigensinnig und kapriziös, stets auf ihren Vorteil bedacht, mit den Sorgen anderer Menschen nicht vertraut.
Sie war ein Monster. Eine Mörderin.
Wind kam auf, fuhr durch ihre zerzausten Haare. Er fegte den Nebel vor ihr mit erschreckender Plötzlichkeit beiseite, trieb ihn zu den Seiten hin weg. Hinter ihr bildete er sich neu. Als wollte er ihr lediglich den Blick nach vorne erlauben.
Der Kilmaaro wurde im Licht des Vollmonds sichtbar. Nach wie vor spie er brennendes Material aus. Kräftiger und in nunmehr größeren Abständen kamen die Eruptionen. Der Strom des brennenden Gerölls hatte sich geändert. Er würde an dem riesigen Schlackehaufen vorbei rinnen, der sich beim Aufeinandertreffen von Feuer und Wasser gebildet hatte.
Spalten durchzogen das Land rings um Kilmalie. Die Stadt blieb wie durch ein Wunder unberührt. Knapp vor den Palisaden war der Fluss umgelenkt worden. Kinga hatte viel riskiert – und Recht behalten. Dank des Witveers hatten die Bewohner dieses rückständigen Dorfes eine unmittelbare Zukunft.
Für sie selbst sah sie allerdings keine.
Albtraumbilder hatten sich ihr eingeprägt. Schreckliche Phantasmagorien, schauerlich und schrecklich, an Intensität kaum mehr zu übertreffen. Für den Rest ihres Lebens würde Lourdes mit einer schweren Schuld leben müssen. Ihr Begleitzug war, so wie es aussah, auf wenige Personen reduziert worden.
»Dort vorne!«, krächzte der bärtige Soldat.
Die Prinzessin ließ ihren Blick neuerlich in Richtung des Feuerbergs schweifen. Nur wenige Dutzend Meter vor ihnen bewegte sich etwas. Eine zittrige Hand schob sich aus einer der breiten Spalten, tastete um sich, fand schließlich Halt an einem Stein und zog den Körper nach.
War dies ein weiterer überlebender Soldat, oder ein Kilmalier, den das Schicksal in die Nähe ihrer verbliebenen Mannschaft getrieben hatte?
Nein. Dies war kein Mensch. Bestenfalls eine Zerrfigur, wie aus einem schrecklichen Traum. Er kam auf die Beine, taumelte wie Minuten zuvor Lomboko auf sie zu.
Auch er hatte die Arme weit ausgeschreckt, als könnte er dadurch sein Gleichgewicht besser halten.
Die Augen!, dachte Lourdes, starr vor Schreck. Sie glühen! Sie verbreiten ein unseliges Feuer, das den tapfersten Mann in die Knie zwingen könnte.
Warum sagte sie nichts? Warum forderte sie ihre drei verbliebenen Soldaten nicht auf, dieses Wesen zu töten oder es zumindest in jenen Schlund zurückzutreiben, aus dem es hervor gekrochen war?
Es fehlte ihr an Kraft. Das Atmen fiel ihr schwer. Die bloße Anwesenheit des Unheimlichen versetzte sie in eine Starre, der sie nicht entkommen konnte.
Ein Knall ertönte. Ein glühender Gesteinsbrocken krachte unweit des Dorfs auf Fels und zerplatzte in tausend Stücke.
Der Bann brach. Sie war wieder sie selbst, konnte ihre Befehle erteilen. Auch die Soldaten, so schien es Lourdes, waren mit einem Mal wieder belebt und brachten die Kraft auf, mit gezogenen Waffen auf den Gegner zuzugehen. Denn ein Gegner musste dies sein. Keinen Moment zweifelte die Prinzessin daran, dass der Mann ihr
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