VT06 - Erstarrte Zeit
noch die Beine aus dem Schnee zu heben. Zehn Schritte weiter froren ihm die Füße im Eis fest. Das Eis wuchs über seine Knie in seinen Bauch bis an sein Herz; bis in sein gerettetes Hirn.
Tage später näherten sich zwei schwarze Gestalten, dick in Fell und Leder gehüllt. Mit ihren Speerspitzen tasteten sie die gefrorene menschliche Gestalt vor dem Bunkereingang ab. Es klang, als würde man gegen dickes Glas stoßen. Ein Eispanzer hatte sich um Knox gelegt.
Die beiden schwarzen, dick vermummten Gestalten, Kinder einer Generation von Überlebenden, die den Einschlag des Kometen »Christopher-Floyd« zum Gottesurteil »Kristofluu« verklärt hatte, untersuchten die Kuppelruine und den geöffneten Schacht. Dann liefen sie aufgeregt davon.
Stunden danach kehrten sie mit hundertzwanzig weiteren, dick vermummten Gestalten zurück. An ihrer Spitze stiegen sie den Schacht hinunter.
***
Chronik einer langen Nacht, 2. Januar 2093
Plötzlich standen sie da. Wie aus dem Nichts waren sie aufgetaucht – schwarzhäutige, glubschäugige Barbaren! Über hundert.
Von Fett triefendes, krauses Bart- und Haupthaar hüllte ihre Gesichter und Schädel ein. Sie waren in stinkendes Leder und in dreckige Felle gehüllt und mit Speeren, Prügeln und Messern bewaffnet.
Liv war in der Küche beschäftigt, als sie aus dem Schacht kletterten. Astrid und ich schlossen uns im Labor ein und beobachteten die Okkupation auf den Bildern, die einige Kameras noch dem Laborrechner lieferten.
Knox konnte ich nirgendwo hören und sehen. Bis zu dieser Stunde ist er wie vom Erdboden verschwunden. Hat er etwa den Barbaren den Eingangsschacht geöffnet?
Die Invasoren schlugen ein Lager in der Gemeinschaftshalle auf, zündeten sogar ein Feuer an. Einige entdeckten Liv und töteten sie.
Ich schickte Astrid in die untere Ebene, damit sie allen Gespenstern, die sie dort fand, den Befehl gab, die Barbaren anzugreifen.
Ich selbst erteilte den gleichen Befehl den Mumienartigen hier oben auf dem Gang vor dem Labor. Durch einen Elektroimpuls scheuchte ich die etwa zweieinhalbtausend Gespenster auf, die sich seit Jahren wieder in ihre Schlafkammern verkrochen hatten. Über Lautsprecher gab ich auch ihnen den Befehl zum Angriff.
Die Barbaren hörten natürlich mit. Sie drangen in sämtliche Gänge und Ebenen ein, um den geheimnisvollen Sprecher zu jagen. So liefen sie meinen Zombies in die Arme. Und wurden selber zu Gejagten.
Wie vielen die Flucht nach oben gelang, kann ich nicht sicher sagen, höchstens zehn. Sicher weiß ich allerdings, dass achtundneunzig Barbaren ihre Frechheit mit dem Leben bezahlten. Ich war inzwischen in der Kühlkammer und habe ihre tiefgefrorenen Hirne gezählt.
Die Flüchtlinge richteten irreversiblen Schaden an. Die wenigen überlebenden Barbaren flüchteten nämlich nicht nur, sondern sprengten nach ihrer Flucht den einzigen Schacht, der meinen Bunker noch mit der Erdoberfläche verbunden hat.
Ich habe sofort meine Gespenster in Marsch gesetzt, damit sie ihn frei räumen. Sie haben es nicht geschafft. Auch zum Schacht, den sie schon fast bis zum alten Kupferbergwerk vorangetrieben hatten, schickte ich sie, damit sie dort einen Ersatzausgang bohren. Ebenfalls umsonst. Der Schacht ist eingestürzt, das Bergwerk so weit entfernt wie eh und je.
Wir haben keine Fluchtmöglichkeit mehr. Die beiden Luftschächte sind viel zu eng. Der Schaden ist nicht wieder gut zu machen. Wir sind auf immer eingeschlossen!
AUF IMMER EINGESCHLOSSEN!
Oben geht irgendwann in den nächsten Jahrzehnten die Eiszeit zu Ende, und ich muss hier, tief unter der Erde dahin vegetieren. Zusammen mit einem Heer halbintelligenter Gespenster und einer Frau, die nach und nach verblödet!
Jetzt bin ich der Kaiser hier unten! Kaiser von knapp dreitausend Zombies, von einer dummen Frau und von etwa hundert Zuchtwürmern. Ironie des Schicksals? Nein. Zynismus des Schicksals.
Jetzt können uns nur noch zwei Dinge helfen: Entweder meine Mammutwürmer bohren, bevor sie uns fressen, ein Loch an die Erdoberfläche. Oder ein Erdbeben bricht irgendwann den Bunker auf…
ENDE
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