VT06 - Erstarrte Zeit
vor der Injektion. Aber so soll es auch sein. Es ist weiter nichts als der Ausdruck eines extrem verzögerten Alterungsprozesses.
Wir bewegen uns auch langsamer als zuvor. Manche von uns geradezu hölzern, möchte sich sagen.
Wir frieren leichter, und vor allem Joshua und die Frauen hüllen sich in drei oder vier Schichten Decken und Mäntel. Und wir schlafen fünfzehn bis zwanzig Stunden am Tag; je nach Konstitution. Ich brauche nur zehn Stunden. Allerdings habe ich mir auch eine geringere Dosis gespritzt.
Wenn wir aber aufstehen – und darauf und nur daraufkommt es an! –, kann jeder die Arbeiten erledigen, für die ich ihn eingeteilt habe: Kontrolle der Tiefschläfer, Wartung der technischen Anlagen, Pflege der Wurmzucht, Reinigungsarbeiten, Essenszubereitung, und so weiter.
Mit Recht also kann ich sagen: Objektiv verläuft alles, wie ich es mir vorgestellt habe.
So könnte es weiter gehen. Eigentlich könnte ich mir selbst auch schon die volle Dosis der Bergmannvariante spritzen. Doch ich warte lieber noch ein paar Wochen. Noch traue ich dem Präparat nicht hundertprozentig. Außerdem habe ich noch keine langfristige Lösung des Ernährungsproblems gefunden. Ich muss also noch härter arbeiten als meine Assistenten.
***
3. Januar 2021
Der Rechner schlug Alarm. Raus aus der Schlafkammer und hinunter ins Labor. Wie eine aufgezogene Puppe bewegte van der Groot sich, hölzern, eckig, langsam.
Im Labor saßen Knox und Vera vor dem Monitor. Auf dem Bett der belegten Schlafkammer zuckte Marens Körper, als stünde er unter Strom. Sie hob den Kopf, zog das rechte Bein an, bäumte den Unterleib auf.
Das war ausgeschlossen, das konnte gar nicht sein. Maren lag seit neun Jahren im Tiefschlaf. Sie bekam monatlich ihre Erhaltungsdosis. Ihre Vitalwerte und ihr Stoffwechsel wiesen seit neun Jahren nicht die geringste Veränderung auf. Auch gestern bei der letzten Kontrolle nicht.
Van der Groot stelzte zu seinen Dienst habenden Assistenten. »Protokolle«, verlangte er.
Vera lud die Protokolle hoch und machte dem Professor Platz vor dem Monitor. Van der Groot überflog die Vitalwerte – sie waren wechselhafter als sonst, aber nicht angestiegen; jedenfalls nicht signifikant. Abgesehen von den Hirnströmen: Deren Ausschläge waren heftiger als gestern noch. Zeichen erhöhter Hirnaktivität?
»Probleme, Dokk, was?« Etwas Lauerndes lag in Knox’ schlaffem Gesicht.
»Biopsie«, ordnete van der Groot an. Sie sprachen fast nur noch in kurzen, abgehackten Sätzen oder in knapp heraus gebellten Stichworten miteinander. Nebenwirkung der Bergmannvariante?
Van der Groot trat in die Schlafkammer und an Marens Bett, während Vera die Instrumente für die Punktion vorbereitete und Knox das Elektronenmikroskop hochfuhr. Der Professor erschrak. Maren hatte sich verändert.
Er kannte sie gut – ihr Gesicht, ihre Haut, ihren Mund. Im Grunde war Maren all die Jahre sein Versuchskaninchen gewesen. Darum hatte er sie auch immer im Labor behalten. Und darum sah er auch sofort, dass sie sich verändert hatte: Ihre Haut war grauer als sonst, ihre Augen lagen tiefer in den Höhlen, die Wangen wirkten irgendwie eingefallen.
Vera und Knox betraten die Schlafkammer. Sie legten Maren auf die Seite, entblößten und krümmten ihren Rücken und desinfizierten die Einstichstelle zwischen zwei Lendenwirbeln.
Van der Groot setzte die Spritze an, stach zu und sog zwei Kubikzentimeter gelbe Flüssigkeit ab – Liquor. Später betrachtete er die aus der Hirnflüssigkeit gewonnenen Hirnzellen unter dem Elektronenmikroskop.
»Problem, Dokk?« Knox beobachtete ihn aufmerksam.
»Zellkerne kaputt«, sagte van der Groot. »Stasis und folgende Zellkernauflösung. Hirnpunktion, sofort.«
Sie punktierten die Hirnzellen direkt aus Marens Gehirn; ein Eingriff, der keineswegs zur Gesundheit der Tiefschläferin beitrug. Doch besonders rücksichtsvoll hatte der Professor Maren all die Jahre nicht behandelt.
Die Untersuchung der Pyramidalzellen bestätigte den Befund: Der von van der Groot ausgemerzt geglaubte Zellenverfall hatte nach so vielen Jahren nun doch wieder eingesetzt.
In den folgenden drei Tagen verfiel Maren mehr und mehr – und wurde zugleich doch immer wacher. Bald darauf fing die ganze Schläferschar an, sich zu rühren. Alle Stichproben ergaben denselben Befund: Die Zellkerne der Pyramidalzellen zerfielen.
Als Maren eines Tage aus ihrem Bett stieg und wie ein Gespenst im Labor und später auch im Hauptgang der Mittelebene
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