VT06 - Erstarrte Zeit
zu ihr und von ihr weg. »Da«, sagte er. Sie gingen zur Tür, stießen sie auf, betraten einen Lagerraum. »Suchen«, sagte Knox.
Der Raum war groß, und viele deckenhohe Regale füllten ihn – dennoch brauchten sie nicht lange, bis sie ihn durchsucht hatten: Die Regale waren leer.
»Nichts«, sagte Carlo.
»Schade.« Knox deutete auf die Konservendose in seiner Hand. »Öffnen.«
»Reicht nur für mich.« Carlos wandte sich ab und stelzte der Tür entgegen.
»Warte.« Knox schlurfte hinterher und hielt ihn fest. »Ich auch.«
»Meins.« Carlo zog die Dose unter seinen verblichenen roten Umhang.
»Ich auch.«
»Nein.«
»Doch.« Knox versuchte dem anderen die Dose zu entwinden.
»Meins!« Sie stürzten zu Boden, rangen miteinander, schlugen aufeinander ein. »Meins!« Carlo wälzte sich auf den Bauch, um die Konserve mit seinem Körper zu bedecken.
»Ich auch!« Knox, der Schwerere, schob sich auf ihn, nahm ihn von hinten in den Schwitzkasten, drückte mit aller Macht zu und hebelte Carlos Kopf nach oben. Halswirbel brachen. Der Körper des einstigen Höllenmusikers erschlaffte.
Knox wälzte ihn auf den Rücken und griff sich die Konservendose. »Meins.«
Er richtete sich auf, steckte die Erbsen in die Tasche und blickte auf den Toten hinunter. Lange stand er so, sehr lange. Irgendwann bückte er sich, packte die Leiche und legte sie sich über die Schulter. Mit der noch warmen Last wankte er aus der Kammer und über den Hauptgang der Mittelebene.
An einer Abzweigung bog er in einen Seitengang ein, betrat ein paar Schritte weiter eine kleine Werkstatt. Auch hier hing alles voller Staub und Spinnennetze. An den feuchten Wänden wucherten Moos und Pilze.
Knox störte sich nicht daran. Überhaupt gab es nur wenig, woran er sich noch störte. Er legte den Toten neben einem niedrigen runden Tisch ab und schlurfte zu einer Werkbank. Vergeblich versuchte er den Gaskocher zu entzünden.
Zurück bei der Leiche, tastete er deren Stirn und Schläfen ab. Warm. Also musste auch das Hirn warm sein. Wozu eigentlich ein Gaskocher?
Er stand auf, ging wieder zur Werkbank und schaltete die Musikanlage ein. Orgelmusik ertönte. Wenigstens das funktionierte noch.
Knox blickte sich um. An der Wand hing eine Axt. Er selbst hatte sie vor fast achtzig Jahren dort hingehängt. Vergessen. Wie sehr das Gedächtnis doch nachlassen konnte. Er lächelte schlaff, nahm die Axt von der Wand und ging zurück zu dem Toten…
***
Chronik einer langen Nacht, 16. September 2092
Zunächst hielt ich es für eine Phänomen der individuellen Konstitution: Knox spricht plötzlich mehr und längere Sätze als die anderen, braucht weniger Schlaf als die anderen – weniger noch als ich –, und er bewegt sich plötzlich geschmeidiger, läuft schneller und arbeitet konzentrierter.
Was ist geschehen?, fragte ich mich.
Vor ein paar Tagen nun führte Verwesungsgeruch mich in die Müllverbrennungsanlage. Ich fand die Leiche des lange vermissten Carlos. Sein Schädel war zerschlagen – und leer.
Gestern, nachdem ich sie fast zwei Stunden verhört hatte, gestand mir Eusebia, dass Knox sein früheres Musikidol getötet und dessen Hirn verspeist hatte. Ich traute meinen Ohren nicht.
Sofort ging ich zu ihm und stellte ihn zur Rede: Er hat den Mord zugegeben, und sein makaberes Mahl ebenfalls. Wobei »zugegeben« das falsche Wort ist: Er hat sich damit gebrüstet. Es sei gut gewesen, zu töten und zu essen, sagte er, und seitdem fühle er sich, als würde er jeden Morgen eine Kanne Espresso trinken.
Soll ich ihn bestrafen? Soll ich die Sache auf sich beruhen lassen? Ich habe ihn erst einmal schwören lassen, so etwas nie wieder zu tun. Andernfalls, so drohte ich ihm, werde ich ihn aus dem Bunker verbannen.
Die viel schwerwiegendere Frage lautet allerdings ganz anders: Kann es wirklich sein, dass der Genuss menschlicher Nervenzellen die Wirkungsweise der Bergmannvariante modifiziert?
***
18. September 2092
Drei Zuchtwürmer waren geflohen. Besonders große Exemplare mit entsprechend harten Kauwerkzeugen. Der Professor traute den Würmern vieles zu. Sie waren ungewöhnlich klug. Einem hatte van der Groot beigebracht, auf einen bestimmten Ruf hin aus dem Gehege bis auf den Gang hinaus zu kriechen, dort zu warten, bis van der Groot die Tür verschlossen hatte und auf ihn geklettert war, und ihn anschließend zu seiner Schlafkammer zu transportieren. Wenn der Professor dann nach zehn Stunden wieder aus seiner Kammer kam, wartete der Wurm noch
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