VT06 - Erstarrte Zeit
Schacht. Draußen herrschen also Minusgrade; trotz des erst ein halbes Jahr zurückliegenden Vulkanausbruchs. Wir werden uns dringend um die Freihaltung der beiden Luftschächte kümmern müssen.
Vorhin kam Eusebia zu mir und präsentierte mir ein graues Haar, das sie sich herausgerissen hatte. Es sei ihr erstes, und es solle vorläufig ihr letztes bleiben. Sie wollte wissen, wann es endlich die Bergmannvariante des Tiefschlafserums geben wird. Gute Frage. Sobald das Gros der Bunkerbewohner in Morpheus’ Reich weilt, werde ich die Forschungsarbeiten wieder aufnehmen.
***
7. Februar 2013
Eusebia fuhr aus dem Schlaf hoch. Schritte entfernten sich von ihrer Kammer. Der Platz neben ihr war leer, aber noch warm. Sie blickte auf die Uhr – 22:34 Uhr Bunkerzeit. Nicht einmal anderthalb Stunden noch bis zum Beginn des Jahrestages.
DER VERFLUCHTE TAG JÄHRTE SICH!
Ausgerechnet den Jahrestag hatte Doc sich für die Injektionen der Bergmannvariante ausgesucht. Kein Wunder, dass Knox nicht schlafen konnte.
Eusebia stand auf, schlüpfte in ihre Kleider, schnappte sich ihre Lampe und verließ die Doppelkammer, die sie sich mit Knox teilte. Wo war er hingegangen? In die Küche? Zu Carlo?
Leise schritt sie durch die schmale Zimmerflucht und vorbei an vielen Luken. Manchmal blieb sie stehen und leuchtete durch das runde Sichtfenster.
In jeder Kammer dasselbe Bild: Auf schlichten Bettgestellen und Spezialmatratzen ruhten ein oder zwei meist schwarzhäutige Menschen; manchmal schliefen auch Kinder mit ihren Eltern in einer Kammer.
Jung oder alt, Singles oder Paare – alle waren mit leichten Decken zugedeckt, und alle trugen je eine Elektrode auf Stirn und Brust, die über dünne Kabel mit einer Schaltfläche in der Wand verbunden war. Und alle wurden über eine durch die Nase führende Magensonde mit der Minimalration an Flüssigkeit und Nahrung versorgt, die sie bei ihrem extrem gedrosselten Stoffwechsel noch benötigten und alle sieben bis zehn Tage verabreicht bekamen.
Vom Labor aus hatte Docs Superrechner Zugriff auf die Vitalwerte und Hirnströme eines jeden Schläfers.
Eusebia erreichte den Hauptgang und wandte sich der Gemeinschaftshalle zu. Sie schliefen seit ungefähr fünf Monaten; 2852 Menschen. Sie alterten nicht, sie merkten nicht, wie die Zeit verging, sie schliefen so tief wie Scheintote; tiefer noch.
Sagte Doc.
Oder genauer: Sagte sein Superrechner.
In der Großküche klapperte Geschirr. Eusebia blieb stehen und lauschte. Jemand hantierte in der Küche herum. Knox? Sie hörte, wie der Kühlschrank zugeschlagen wurde.
Fast wie früher, dachte sie, fast wie zu Hause.
Schritte näherten sich aus der Küche. Eusebia wich zurück in die Einmündung eines Seitengangs. Knox, tatsächlich! Mit einer großen Schüssel in den Händen kam er aus der Küche. Die Schüssel war mit einem Geschirrtuch zugedeckt. Er durchquerte die Gemeinschaftshalle. Seine quastige Mähne stand wirr nach allen Seiten ab. Sein Gesicht sah müde und gelblich aus. Er trug seinen langen, abgewetzten Ledermantel. Bei jedem Schritt klirrte das Besteck in den Taschen.
Wozu brauchte er so viel Besteck? Und was war in der Schüssel?
Er verschwand im Hauptgang. Besorgt schlich Eusebia ihm hinterher. Wie er schlurfte, wie gebeugt er ging! Das vergangene Jahr hatte Spuren an seinem Körper hinterlassen, in seiner Gesundheit. Aber welchem Mann oder welcher Frau, die noch wach waren, hatte das vergangene Jahr keine Spuren eingeprägt?
Morgen. Ab morgen würde niemand mehr altern. Morgen um 14:42 Uhr begann das Wachkoma. Jedenfalls würde Doc zu dieser Zeit das Serum spritzen: sich selbst, und seinen zwölf Assistenten. Das hatte er versprochen.
Die Holzstiegen in der Schachttreppe knarrten. Eusebia huschte hinter Knox her. Sie lauschte am Liftschacht, bis seine Schritte in der Mittelebene verklangen. Irgendwo ging eine Tür. Sie blickte auf – Peter van Dam huschte über den Gang und verschwand in Livs Kammer.
Konnte überhaupt einer der dreizehn Übriggebliebenen schlafen in so einer Nacht? Eusebia schlich die Holztreppe hinunter. Auf leisen Sohlen huschte sie über den Hauptgang. Hinter der Tür zu einer Vorratskammer hörte sie eine Frauenstimme. Eusebia blieb stehen und lauschte. Vera. Sie stöhnte. Und dann eine Männerstimme – leidenschaftlich und wollüstig. War das nicht Carlo?
Sie lief weiter. Auch aus dem Labor drangen Stimmen. War Knox hierhin gegangen mit seiner Schüssel? Eusebia öffnete leise die Tür und trat ein. Van
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