VT07 - Niemandes Welt
Animalische Gier loderte in seinen Augen.
Da endlich war Marie heran und versetzte dem Angreifer einen Tritt gegen die Schulter, der ihn von dem Toten herunter und in Richtung des Feuers rollen ließ.
Die anderen Gruh stoben auseinander, als fürchteten sie die Nähe oder gar eine Berührung ihres durchgedrehten Kameraden.
Mit einem Sprung kam der Gruh wieder auf die Beine. Seine Klaue wischte nach Maries Kehle. Mit der Schnelligkeit einer Fechterin wehrte sie den Angriff ab, ergriff die Hand des Gruh, aus der die abgebrochene Spitze einer Metallnadel ragte, und drehte sie nach hinten, bis der Handwurzelknochen brach.
Der Gruh ließ ein unwilliges Knurren hören. Der Blick seiner blutunterlaufenen Augen richtete sich auf Maries Stirn. Wie eine Schlange zuckte er vor, und Marie gelang es gerade noch, ihm den Ellbogen in die Kehle zu stoßen. Sein Kehlkopf zerbarst knirschend. Es schien ihm nichts auszumachen.
Mit der gesunden Hand schlug er erneut nach ihrer Kehle, während die gebrochene Rechte wie ein halb abgebrochener Zweig an seinem Handgelenk pendelte. Die Sehnen an seinem Hals traten wie Seile hervor, aus seinem Rachen tropfte zäher Speichel.
Da wischte ein Schatten heran und stieß den Gruh kraftvoll zur Seite – Nooga! Die Kreatur stürzte zu Boden.
Sofort wollte sich der Gruh wieder aufrichten, aber da waren die Wächter heran und kreisten ihn ein. Gegen die gleichzeitigen Angriffe von mehreren Seiten war er chancenlos.
Sein abgeschlagener Kopf rollte durch den Sand und blieb nur eine Armlänge von Marie entfernt liegen, den gläsernen Blick seiner toten Augen direkt auf sie gerichtet.
Marie schnappte nach Luft. Versuchte zu begreifen, dass sie noch am Leben war.
»Bist du in Ordnung, Marie?«
Nooga! Er trat neben sie. Marie nickte stumm und blickte auf die anderen Kreaturen beim Feuer, die sich jetzt, nachdem der irre Gruh tot war, wieder »normal« benahmen und auf die Wächter losgehen wollten. Doch mit ihren schwerfälligen Bewegungen waren sie eine leichte Beute für die überzähligen Männer.
Nooga berührte den Kopf des irren Gruh mit der Schwertspitze. »Das ist Kinga«, sagte er überrascht.
»Kinga?«, echote Marie.
Dann erinnerte sie sich an Noogas Bemerkung: Kinga, der Woormreiter aus Kilmalie, der angeblich so viele Frauen beglückt hatte… Nun, damit war es nun wohl für alle Zeiten vorbei.
»Was war nur los mit ihm?«, murmelte Nooga. »Er benahm sich gar nicht wie die anderen Gruh. Er war so… schnell. Und viel gefährlicher!«
»Die anderen hatten Angst vor ihm«, stellte Marie fest. »Sie waren völlig verwirrt in seiner Nähe – als würde seine Ausstrahlung ihnen Schmerzen bereiten. Anscheinend sind sie sogar vor ihm hierher geflohen.«
Nooga nickte. »Erst als Kinga tot war, wurden sie wieder normal.«
Maries Lederkleidung war an mehreren Stellen zerrissen und blutbefleckt. Ein kalter Schrecken durchfuhr sie, und sie tastete sich hastig ab.
»Bist du verletzt?«, fragte Nooga besorgt. Er wusste, was das bedeutet hätte.
Sie schüttelte den Kopf. »Das ist nicht mein Blut, sondern das des Gruh.«
Nooga wandte sich ab und untersuchte die Leichen der anderen Gruh, um sicherzugehen, dass keiner von ihnen überlebt hatte.
Marie verspürte kein Interesse daran, ihm Gesellschaft zu leisten. Sie hatte genug gesehen für diese Nacht, und ihr war übel vor Schreck. Mit schweren Schritten näherte sie sich dem Haus.
Mala öffnete die Tür. »Komm rein. Du musst dich waschen.«
Marie nickte. Gedankenverloren richtete sie ihre Kleider so, dass der blutige Kratzer an ihrer Achsel von dem Stoff verborgen wurde, und betrat das Zimmer, in dem die Kinder, die nichts von den Kämpfen mitbekommen hatten, immer noch friedlich schliefen.
***
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[1] Frakken: ca. 10 cm große Wanderheuschrecken, die zweimal im Jahr über den Kontinent ziehen
[2] mutierter Riesenschwan
ENDE
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