VT10 - Tod im Blut
sein Freund ja Recht. Aber er konnte den Gedanken nicht abschütteln, dass alles im Gegenteil noch viel schlimmer war…
***
Prinzessin Antoinette kam gerade von ihrem Morgenspaziergang zurück.
Nicht dass sie sich wirklich und wahrhaftig selbst bewegt hätte. Sie hatte sich wie immer in ihrer Sänfte zurückgelehnt und war von vier ächzenden Dienern eine Runde durch den Palastgarten getragen worden, auf mit Nussschalen gepflasterten Wegen, die sich durch die Wiesen aus Kunstgras schlängelten, und vorbei an den Rabatten mit Seidenblumen, Bäumen aus harzüberzogenem Pappmachee und Windrädern aus buntem Papier. Wie auch im Rest der Stadt, war hier alles auf geringes Gewicht ausgelegt. Die Aussicht vom Pavillon aus Stroh und Balsaholz auf den immer noch qualmenden Kilmaaro, den die abergläubischen Eingeborenen als Gottheit verehrten, war wunderschön.
Eine himmlische halbe Stunde verbrachte Antoinette ohne den ständigen Sermon, den Maries Berater ihr ständig ins Ohr heulten. Diese dummen Idioten hatten doch alle keine Ahnung.
Einerseits hatte Antoinette Sehnsucht nach ihrer eigenen Wolkenstadt, Avignon-à-l’Hauteur, wo sich ihre Berater stets vornehm zurückhielten. Andererseits graute es sie, dorthin zurückzukehren. Wie würde es sein ohne ihre Schwester Lourdes? Sie hatten immer gemeinsam regiert, hatten alles besprochen und die für sich beste Lösung jedes einzelnen Problems beschlossen. Was es zum Abendessen geben sollte, zum Beispiel. Welchen Schneider man sich in den Palast bestellte. Oder welchen schmucken Burschen vom Lande die Ehre zuteil wurde, sie zu beglücken.
Arme Lourdes! Arme tote Lourdes!
Marie wuchtete ihre hundertzwanzig Kilo Lebendgewicht aus der Sänfte und trat an das Geländer aus Aluunium, das den Park abschloss. Sie atmete die frische Luft tief ein und betrachtete die kunstvoll gefertigten Seidenbüsche, aber sie konnte sich nicht recht daran erfreuen. Mon dieu, wie lange hatte sie jetzt schon wegen dieser blöden Gruh nicht mehr an die schönen Dinge des Lebens denken können?
Zu lange.
Sie beschloss, sich nicht mehr zu ärgern und sich stattdessen zum Haus des besten Schneiders der Stadt tragen zu lassen. Mit einem neuen Kleid könnte sie sich ihrem lieben Herrn Papa in genau dem richtigen Licht zeigen.
Antoinette ließ sich ermutigt wieder in die Sänfte fallen und befahl den geplagten Trägern, sie zum Haus des angesehensten Schneiders zu bringen. Sie lehnte sich bequem zurück, schloss die Augen und versuchte sich das neue Kleid jetzt schon bis ins kleinste Detail vorzustellen.
Sie war gerade beim Spitzenbesatz – orange auf einem wunderbar sonnigen Gelb –, als sie unwillig zur Kenntnis nehmen musste, dass die Sänfte angehalten hatte.
»Warum halten wir an, he?« rief sie unwillig, doch sie erhielt keine Antwort. Auch ein zweiter Zuruf half nicht. Also schob sie wohl oder übel die Vorhänge der Sänfte auf und spähte nach draußen.
Beinahe sofort fuhr sie zurück.
Draußen stand eine Menschenmenge dicht um die Sänfte gedrängt. Im ersten Moment dachte Antoinette, dass diese schrecklichen Gruh sie umzingelt hätten, doch es waren einfache Leute. Sie schwiegen, die meisten hatten ihre Kopfbedeckungen abgenommen und starrten jetzt unverwandt auf die Prinzessin.
Ein Mann fiel ihr auf, der direkt neben der Sänfte stand. Er drehte verlegen seine Mütze in der Hand, während die Menge hinter ihm finstere Blicke verschleuderte. Antoinette konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Menschen am liebsten handgreiflich geworden wären und dieser Mann hier neben der Sänfte sie davon abhielt.
Jetzt wandte er sich an Antoinette. »Prinzessin, wir sind gekommen, um euch unsere Bedenken mitzuteilen! Wisst ihr, dass es heute Nacht einen Mord in Orleans-à-l’Hauteur gegeben hat?«
Antoinette starrte den Mann an. »Was…« Am liebsten hätte sie ihn und seine Bagage zum Teufel gejagt, aber wer konnte sagen, wie die Leute darauf reagieren würden? Also ließ sie sich zu einer Antwort herab.
»Einen Mord, sagt ihr? Weiß man, wer ihn begangen hat?«
»Nein, Eure Excellenz, das ist bisher unbekannt. Wir nehmen aber an, dass es ein Gruh war. Jedenfalls wurde das Gehirn aus dem Körper geraubt.«
Antoinette schauderte. Mit einem Mal war ihr so übel, dass sie sich beinahe hier auf die nackten Füße des Stadtbewohners übergeben hätte. Doch sie nahm sich zusammen.
»Das ist in der Tat furchtbar. Ich werde mich sofort dieser Schandtaten annehmen!« Damit wollte
Weitere Kostenlose Bücher