Vulkanpark
Beide
schliefen.
Wehmütig
dachte sie an die Sonntagmorgen, in denen sie alle drei miteinander im Bett
gekuschelt hatten, als der Kleine schon ganz früh ins Elternschlafzimmer
gehuscht kam und sofort in ihre Mitte schlüpfte. Da war er vielleicht drei oder
vier gewesen. Wann hatte dieses vertraute Miteinander aufgehört? Sie konnte es
nicht benennen. Die Dinge hatten sich schleichend entwickelt.
In
Timos Zimmer hatte sie nichts verändert. Jeden Tag ging sie hinein und hielt
dort eine Art Andacht. Sie setzte sich auf sein Bett, an dem die Suchhunde
geschnüffelt hatten, versuchte, sich an den Duft seiner Haare zu erinnern, die
Wärme seiner Haut. Wollte in den Moment eintauchen, ihn festhalten und alles
andere ausblenden. Sie streichelte seinen Schlafanzug, den sie nicht wusch,
weil sie seinen Geruch bewahren wollte, und wusste nicht mehr, wohin mit dieser
Liebe.
Ihr
Blick streifte die Fotos an den Wänden seines Zimmers, hauptsächlich
Landschaftsaufnahmen, die Timo fotografiert hatte. Sie hatte sich stets darüber
gefreut, dass er sich für die Besonderheiten seiner Heimat, die vulkanische Osteifel,
interessierte. Viele Ausflüge in die nahe Umgebung hatten sie gemacht, weil er
aus dem gesammelten Material über den Vulkanismus eine Mappe erstellen und nach
den Ferien abgeben wollte. Den Ordner hatte die Polizei mitgenommen, wie so
manches aus Timos Zimmer.
Den
Lava-Dome in Mendig hatte er sehr oft allein besucht und jedes Mal voller
Begeisterung darüber berichtet. Dort konnte man die Entstehungsgeschichte der
Vulkane in einer virtuellen Zeitreise hautnah miterleben. Auch die
unterirdischen Felsenkeller und -gänge, die durch den Abbau des Basalts
entstanden waren und sich als labyrinthartiges Höhlensystem durch Mendig zogen,
fand sie selbst so interessant, dass sie sie mit ihm zusammen besucht hatte.
Dort unten war es so kühl, dass die Höhlen den zahlreichen Bierbrauereien der
Umgebung einst als riesiger Kühlschrank gedient hatten.
Noch am
letzten Sonntag hatten Timo und sie einen gemeinsamen Ausflug unternommen, bei
dem sein Vater wieder einmal in der letzten Minute einen Rückzieher gemacht
hatte. Timo hatte sich so sehr gewünscht, den Andernacher Kaltwasser-Geysir zu
sehen. Im Infozentrum hatte er aufmerksam die Schautafeln und Exponate
betrachtet, jede Erklärung über die Entstehung dieses Naturphänomens gelesen
und jedes Faltblatt mitgenommen. Aufgeregt war er, als es dann mit dem Schiff
zum Geysir ging, der inmitten eines Naturschutzgebietes liegt und der der
größte seiner Art auf der ganzen Welt ist. Wie beeindruckt war er über die
Kraft des Wassers, das meterhoch in die Höhe schoss.
Timo
hatte ein schönes Leben, versuchte sie sich einzureden, auch wenn es vielleicht
viel zu kurz war und er nicht mehr zurückkam. Nur zögerlich gestand sie sich
ein, dass sich die Ahnung, dass er tot war, längst mit ihren Widerhaken in ihr
Hirn gekrallt hatte und nicht mehr länger verdrängt werden konnte. Obwohl
dieser Gedanke ihr fast das Herz zerriss. Sie hoffte so inständig, dass er
nicht hatte leiden müssen. Dass ihm niemand etwas Schlimmes angetan hatte.
Obwohl sie wusste, dass dies ein barmherziger Wunsch war. Nachts schreckte sie
schweißgebadet aus ihren Albträumen auf. Hörte die Hilfeschreie ihres Kindes.
Und konnte ihm nicht helfen. Diese verdammte Ohnmacht. Und die Wut auf einen
unbekannten Menschen, der ihm und ihr solches antat.
Sie
konnte sich über nichts mehr freuen. Nicht über den neuen Tag, nicht über
Vogelgezwitscher oder Sonnenschein. Immer war da dieses dumpfe Gefühl, dass sie
sich nicht freuen dürfe. Weil man ihr das Liebste weggenommen hatte.
Aber am
schlimmsten war, dass sie sich so schrecklich alleingelassen fühlte. Ihr Mann
redete kaum noch mit ihr. Nach außen wahrte er die Fassade. Doch sie wusste, er
ging weiterhin regelmäßig zu seiner Freundin. Manchmal blieb er sogar über
Nacht dort.
Ein
paar Mal hatte sie zu einem Gespräch angesetzt. Wenn er schon nicht mit ihr
über seine Freundin sprechen wollte, dann doch wenigstens über das, was sie
einst am stärksten miteinander verbunden hatte: ihr gemeinsames Kind. Zaghaft
hatte sie nach Worten gesucht, die ihm ihre Angst verständlich machen sollten und
in denen die Ahnung mitschwang, dass Timo nicht mehr leben könnte.
»Sei
doch nicht so pessimistisch«, hatte Heinrich unwirsch geäußert. »Es hat doch
schon öfter Fälle gegeben, dass Kinder sogar nach Jahren wieder aufgetaucht
sind. Lebend.« Vielleicht
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