Vulkanpark
dabei, dass sie Timos Namen rief. Bis ihr in der nächsten
Sekunde einfiel, dass er gar nicht da war. Unablässig quälte sie sich mit
Selbstvorwürfen. Wieso hab ich Timo nicht rechtzeitig abgeholt? Hätte ich
früher mit dem Suchen begonnen, wäre alles gut. Wer weiß, wo er jetzt ist und
was er alles durchmachen muss … Am schlimmsten wog der
Gedanke, dass sie nicht für ihr Kind da sein konnte, jetzt, wo es sie
vielleicht am meisten brauchte. Sobald sich etwas Konkretes, etwas unfassbar
Schreckliches in ihrem Hirn zu formen begann, eine Ahnung, was tatsächlich mit
ihrem Sohn geschehen sein könnte, verschloss sie die Augen und drängte diese
Gedanken zurück.
Wie
versteinert war sie vor Anspannung. Den Schmerz spürte sie am stärksten
unterhalb ihres Herzens. Dort, wo Timo vor neun Jahren gewachsen war. Ein
Schmerz, den auch die Medikamente nicht zu mildern vermochten.
Ein
entferntes Rotorengeräusch ertönte am Himmel, das langsam näher kam. Ein
Hubschrauber flog über ihr Haus, weiter über Wälder, Wiesen und den Laacher
See. So viele Menschen suchten nach Timo, dafür war sie dankbar. Und doch, das
Warten war schier unerträglich. Die ständige Grübelei. Nicht zu wissen, was
passiert war. Nicht zu wissen, wo Timo sich aufhielt. Manchmal fürchtete sie zu
platzen. Weil sie nicht wusste, wohin mit dieser Ohnmacht, wohin mit dieser
Ungewissheit. Dem furchtbarsten aller Gefühle.
Ohne
Beruhigungsmittel wäre das überhaupt nicht zu ertragen. Doch die Arznei
verfälschte vieles, es kam ihr alles so unwirklich vor, lähmte sie, und sie
wollte doch wach sein. Bereit sein, wenn Timo wiederkam. Dass er nicht mehr
wiederkommen könnte, verbot sie sich zu denken. Ihre Gefühlswelt bewegte sich
zwischen Annehmen und Hadern, zwischen Dulden und dem Bedürfnis, laut zu
schreien. Doch sie bemühte sich, leise zu sein und zu funktionieren, den
Schmerz auszublenden. In ihrem Gehirn suchte sie nach tröstlichen Episoden, um
die schlimmen Bilder, die sich immer wieder einzunisten drohten, zu verdrängen.
Sie atmete schwer. Ihr Mund war trocken. Plötzlich begann sie aus einem Impuls
heraus zu beten. Doch ihr Gebet war eine einzige Anklage: »Lieber Gott, warum
hast Du zugelassen, dass mir so etwas angetan wird? Heißt es nicht immer, man
bekommt nur solche Bürden, die man auch tragen kann? Ich weiß nicht, wie lang
es noch dauert, bis ich zusammenbreche.« Erschrocken vor ihrer lauten Stimme
sah sie sich um. Hoffentlich hatte das keiner der Nachbarn mitbekommen. Schnell
ging sie zurück ins Haus und schloss die Terrassentür hinter sich.
Das
Haus mit seinen vielen Ecken und Winkeln war ihr stets ein Refugium gewesen.
Hier hatte sie viele schöne und auch manch schlimme Momente erlebt. Die
Kleinstadt Mendig nahe dem Laacher See war ein ländlicher Ort, den sie als
friedlich und idyllisch angesehen hatte. Als sicher. Wo niemand Angst zu haben
brauchte. Hier war ihr Kind aufgewachsen. Hier war Timo glücklich.
Ob er
mitbekommen hatte, dass es mit der Ehe seiner Eltern nicht zum Besten stand?
Dass sein Vater fremdging, wann immer sich eine Gelegenheit bot? Sie hatte sich
stets bemüht, normal zu wirken. Man behauptete ja, Kinder hätten Antennen für
so etwas. Aber ihr Sohn hatte nie etwas in dieser Richtung geäußert. Und sie
hatte still Heinrichs Eskapaden geduldet und sich gehütet, ihrem Mann vor dem
Kind eine Szene zu machen.
Fast
gewaltsam versuchte sie, sich an die schönen Stunden zu erinnern.
Glücksmomente, von denen es viele gegeben hatte. Sie holte zwei der zahlreichen
Fotoalben hervor. Dokumente, dass dieses Kind existierte.
In
Timos erstem Lebensjahr hatte Heinrich so viele Fotos geschossen, dass mehrere
Alben gefüllt waren. Wie war er vernarrt gewesen in seinen Stammhalter. Wie
stolz. Damals war ihre kleine Welt noch in Ordnung gewesen. Oder hatte es da
schon Anzeichen gegeben, die sie nicht bemerkte?
Sie
dachte an Timos Geburt, diesen Moment, in dem das neue Leben sichtbar auf ihrem
Bauch lag. Ihr Mann hatte schützend die Hand um das kleine Köpfchen gelegt, und
sie waren von einem starken Zusammengehörigkeitsgefühl durchdrungen gewesen.
Damals hatte sie fest daran geglaubt, dass nichts und niemand diese
Dreieinigkeit zerstören könnte.
Spätere
Fotos zeigten ein rundes rotwangiges Gesichtchen mit den ersten Zähnchen
zwischen den geöffneten Lippen. Ein Foto hatte sie aufgenommen, als Heinrich im
Bett lag, das Baby auf seinem Bauch, das er behutsam zugedeckt hatte.
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