Vulkanpark
gedemütigt, wütend
oder verletzt sind, lassen sie sich zu solch schlimmen Taten hinreißen. Anders
gesagt: Das Böse lebt in der Tat. Man muss kein böser Mensch sein, um böse
Taten zu begehen.«
»Das
ist eine rein philosophische Antwort.« Sie lächelte milde. »Du willst
tatsächlich nicht den Glauben an das Gute im Menschen aufgeben. Auch nicht
angesichts solch einer monströsen Tat.«
Er
nickte. »Ich möchte das gern neutral sehen. Mit den Augen eines sachlichen
Beobachters. Das würde mir das Verstehen erleichtern. Aber geht das denn, was
glaubst du?«
Andrea
durchdrang eine kleine Freude, wenn ihr Mann sie um ihre Meinung fragte,
besonders wenn es um solch ernste Angelegenheiten ging, für die es keine
einfachen Antworten gab. Als seine gleichberechtigte Partnerin fühlte sie sich
dann stark und wertvoll. Aber ob sie in diesem Fall eine wirkliche Hilfe sein
konnte? Sie spürte, dass sie nicht in der Lage war, eine neutrale Position
einzunehmen. Auf gar keinen Fall wollte sie sich vorstellen, dass sie Ähnliches
erleiden könnte wie die Eltern des toten Jungen. Andererseits fand sie die
Gedankengänge ihres Mannes richtig. Ein Paar musste nicht immer in die gleiche
Richtung denken, durch eine gewisse Unterschiedlichkeit kam man manchmal auf
die interessantesten Lösungsansätze.
»Der
Trauergottesdienst ermöglicht den Eltern, Abschied von ihrem Kind zu nehmen.
Das sollte so würdevoll wie möglich geschehen, dafür bist du zuständig.«
Rainer
seufzte. »Erschwerend kommt hinzu, dass die Eltern zerstritten sind und
einander nicht mal in diesen schweren Stunden beistehen. Dabei ist ihnen beiden
das Liebste genommen worden, was sie hatten. So ein Schicksalsschlag sollte sie
doch eher zusammenketten.«
Andrea
schnitt ein Stück Fleisch ab und schob es in den Mund. Das Essen war inzwischen
kalt geworden. Auch sie hatte keinen rechten Appetit mehr. »Mir kommen unsere
Sorgen angesichts dieser Probleme so klein vor. Was für ein Schmerz muss das
sein, das eigene Kind ermordet zu wissen.« Ihr Blick ruhte auf ihrem Mann.
Er sah
hoch, direkt in ihre Augen. Sein Blick war starr, und es lag etwas darin, das
sie nicht recht deuten konnte. »Weißt du, wovor ich Angst habe? Dass es einer
von uns ist. Vielleicht ist es sogar jemand, den wir kennen?«
»Hast
du etwa einen Verdacht?«
»Nein,
das nicht. Aber womöglich ist es tatsächlich jemand aus unserer Gemeinde, von
dem wir niemals angenommen hätten, dass er in der Lage sei, so was zu tun.«
Sie
wiegte den Kopf. »Wer kann einem anderen schon in den Kopf sehen.«
»Ich
geh ins Arbeitszimmer.« Abrupt stand er auf.
»Bitte
bleib noch«, bat sie und fasste nach seiner Hand. »Ich wollte noch etwas mit
dir besprechen. Etwas ganz anderes.«
»Aha.«
Er setzte sich wieder und sah sie fragend an.
Vielleicht
war es nicht klug, ihn jetzt mit ihren eigenen Ängsten zu konfrontieren. Aber
wenn sie das nicht bald loswurde, platzte sie. Dennoch wusste sie nicht, wo sie
beginnen sollte. Obwohl sie ahnte, dass diese Angst irrational war, dass das,
was sie ihrem Kind mitgegeben hatten, niemals aufgewogen werden konnte von
Eltern, die sich nicht gekümmert hatten. Aber hieß es nicht immer, Blut sei
dicker als Wasser?
Einen
Moment herrschte Stille. Dann brach es aus ihr hervor: »Rainer, ich hab solche
Angst, Konny zu verlieren«, flüsterte sie tonlos.
»Wie
kommst du denn auf so was? Will er etwa immer noch diese Britta heiraten?«
»Nein,
das ist es nicht.« Sie erzählte ihm von Konnys Fragen nach seinen leiblichen
Eltern. Dass er wissen wolle, woher er stammte. Dass er nicht aufgeben würde,
nachzuforschen.
»Er ist
doch unser Kind«, sagte sie. Tränen rollten ihre Wangen hinunter. »Was
interessieren ihn da diese Menschen, die ihm so Schlimmes angetan haben?«
Er sah
sie mit weichem Blick an. »Ich denke, Konny weiß, wer seine wahren Eltern sind.
Aber kein Kind gehört einem für immer. Irgendwann werden wir loslassen müssen.
Das ist der Lauf der Dinge. Wahrscheinlich schon bald. Mit 18 ist er
volljährig, da kann ihm keiner mehr Vorschriften machen, und er kann tun und
lassen, was er will. Du wirst sehen, es wird alles gut.«
Sie
schluchzte laut auf.
»Er ist
mir so fremd geworden. Und seine Hartnäckigkeit macht mir Angst.«
Rainer
stand auf. »Entschuldige, aber ich kann mich damit im Moment nicht auch noch
belasten. Mir gehen andere Dinge im Kopf herum. Das verstehst du doch sicher.«
Sie sah
ihm entsetzt nach und fühlte sich wahnsinnig
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