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Vulkanpark

Vulkanpark

Titel: Vulkanpark Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Keiser
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entstand.
    Als die
Sonne tiefer sank, stiegen die Wellen der Nordsee wieder höher. Morgen wollten
sie sich Räder ausleihen und alle zusammen eine Fahrradtour machen. Elias
bestand darauf, ein eigenes Kinderfahrrad zu bekommen, und Lucia würde in einem
Kindersitz auf dem Rad ihres Vaters sitzen.
    Dorothee
konnte sich vorstellen, ewig hier zu bleiben, Michaels Stimme zu lauschen, im
Hintergrund das Rauschen der Wellen. Die Sonne auf der Haut zu spüren und es
sich gut gehen zu lassen. Sie bedauerte ein wenig, dass zwei Wochen viel zu
kurz waren, und sie bald schon wieder in Richtung Heimat aufbrechen mussten.

38
     
    »Den Eltern ist das Schlimmste
widerfahren, was Menschen überhaupt widerfahren kann«, begann Rainer Liebermann
seine Predigt. »Timo lebt nicht mehr, das müssen wir begreifen, obwohl wir
damit an unsere sprachlichen und gedanklichen Grenzen stoßen. Sein junges Leben
wurde ihm auf brutale Weise genommen. Ein unfassbares Verbrechen, dem wir
hilflos und verzweifelt gegenüberstehen, das uns alle, die wir hier versammelt
sind, erschüttert.«
    Barbara
Sielacks saß in der ersten Reihe, den Blick auf ihr lachendes Kind gerichtet,
dessen Foto neben dem Altar aufgestellt war. Sie war ohne ihren Mann gekommen,
der, wie er sagte, dies alles nicht aushalten könne. Auch ihr fiel es schwer,
hier zu sein, aber sie hätte es nicht übers Herz gebracht, dem
Trauergottesdienst fernzubleiben. Sie fand, dass sie diese letzte Ehrerweisung
Timo schuldig war.
    Vor das
Bild ihres lachenden, lebendigen Kindes schob sich ein anderes Bild, ohne dass
sie es wollte: Timo, wachsbleich mit geschlossenen Augen und mit nassen
Blättern im Haar.
    »Im
Angesicht des Bösen sind wir fassungslos, empört, die Welt ist aus den Fugen –
weil jemand sie bewusst zerstört hat.«
    Sie
blinzelte heftig und versuchte, sich auf das zu konzentrieren, was der Pfarrer
sagte. »Timo war ein Opfer der Willkür und der Gewalt eines Stärkeren. Sein Tod
hat uns alle erschreckt, bestürzt und mit tiefer Trauer erfüllt.«
    Viele
Menschen standen dicht gedrängt an den Seitenwänden der Kirche. Die Predigt
wurde über Lautsprecher nach draußen übertragen. Wahrscheinlich waren dort noch
mehr Trauergäste.
    »Wir
sind alle unendlich traurig. Unser ganzes Mitgefühl gilt den Eltern.
Verständnislos stehen wir vor dieser Tat. Ein neunjähriges Kind, am Anfang
seines Lebens, müssen wir heute zu Grabe tragen. Aber wir können eines mit
Gewissheit sagen: Timo ist nun in der Hand Gottes geborgen.«
    Pfarrer
Liebermann hielt eine bewegende Ab­schiedsrede. Beim Trauergespräch war er sehr
einfühlsam gewesen, und sie fand ihr Kind wieder in seinen Worten, mit denen er
Timo beschrieb. Er schilderte ihn als einen fröhlichen Jungen, der gern zur
Schule ging und viele Freunde hatte. Der sich gern bewegte und Sport trieb und
mit seinem Fahrrad Kunststückchen vollführte.
    Barbara
Sielacks dachte daran, wie sie ihm als kleinem Jungen das Fahrrad-Fahren
beigebracht hatte. Später, als er es beherrschte, fuhr er gern freihändig und
ein paar Mal fiel er dabei auch auf die Nase.
    »Manchmal
nervte er seine Lehrer und Mitschüler, weil er alles gar zu genau nahm«,
äußerte der Pfarrer, was sie nur bestätigen konnte. »Auf jeden Fall ist Timo
ein Kind, das nicht vergessen werden sollte.«
    Der
Pfarrer mühte sich redlich, Antworten auf Fragen zu formulieren, für die es im
Grunde keine Antworten gab, und erzählte die Geschichte von Hiobs Freunden, die
sieben Tage und Nächte schweigend bei ihm saßen, als er großen Kummer hatte.
»Sie sprachen nicht, denn es gab keinen Trost. Und auch wir wollen jetzt nicht
viel reden, sondern uns auf Sätze aus der Heiligen Schrift einlassen.«
    Es
wurde laut und viel geschluchzt während des Gottesdienstes. Barbara hatte die
Hände gefaltet und den Kopf gesenkt. Ihr Gesicht war versteinert. Weinen konnte
sie nicht mehr. Sie hatte bereits zu viele Tränen vergossen.
    »Wir
können nicht begreifen, was geschehen ist. Und doch dürfen wir uns nicht dazu
hinreißen lassen, Böses mit Bösem zu vergelten. Gedanken und Fragen quälen uns.
Sei bei uns in unserer Trauer, oh Herr. Gib uns Mut zum Leben.«
    Jetzt
sprach der Pfarrer Barbara direkt an. »Sie und Ihr Mann, die ihr so schmerzlich
das Schreckliche erfahren musstet, werdet das möglicherweise nie überwinden.«
    Etwas
hilflos mutete sein Versuch an, Gegenentwürfe zu den furchtbaren Bildern zu
entwickeln, die mit dem Tod ihres Kindes einhergingen. »Wir können nur

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