Vyleta, Dan
Metzger, aus denen die Leute
neidische Blicke auf alle warfen, die ihre Einkäufe erledigen konnten, bevor
ein weiterer Fliegeralarm alles erneut abbrach. Die Leute verfielen in Flüstern,
wenn sie jemanden mit einem Parteiabzeichen oder eine Streife entdeckten.
Überdachten schnell, was sie gerade gesagt hatten, und ob etwas dabei gewesen
war, was sie nicht hätten sagen sollen. Die Schatten schrumpften in der späten
Vormittagssonne.
Sonja
erinnerte sich auch an die Propagandaflugblätter, auf denen beschrieben wurde,
was die Russen entlang der vorrückenden Front den Frauen antaten. Sie hingen
an Litfaßsäulen und Laternen, und Sonja riss sie manchmal ab, um sie mit nach
Hause zu nehmen und in Ruhe studieren zu können. Die Flugblattschreiber
mochten Fakten: das Alter, ob die Frauen verheiratet gewesen waren und wie oft
man es ihnen angetan hatte ... Am Ende waren es alles Zahlen: Eine
sechzehnjährige Jungfrau war dreimal an einem Abend vergewaltigt worden, eine
zweimalige Mutter siebenmal in einer Stunde, und der siebte und letzte, ein
Mongole, hatte danach auch noch ihre Tochter genommen. Eine Kriegerwitwe musste
dreiundzwanzig Russen ertragen, bevor sie sich selbst die Kehle durchschnitt,
den Namen des Führers auf den Lippen. Eine Vierzehnjährige, eine Zwölfjährige.
Ein Mädchen von sieben. Die Flugblätter übten eine merkwürdige Faszination auf
Sonja aus, irgendwie brachten sie den Krieg nach Hause und vermischten ihn mit
dem Geheimnis des Geschlechtlichen. Sonja erinnerte sich, wie sie auf ihren
Spaziergängen nach ihnen gesucht hatte. Sie las sie und bekam eine Gänsehaut,
wurde rot beim Gedanken an die nackten Körper.
Das war,
bevor Berlin erobert wurde. Soweit vermochte sie alles in Worte zu fassen, mit
so etwas wie Wehmut sogar. Dann stockte sie. Wenn es darum ging, sich das
Nachfolgende vor Augen zu rufen, stockte sie.
Der Junge
neben ihr stöhnte im Schlaf. Sie stand auf und wischte ihm mit einem feuchten
Tuch über die Stirn.
Sie sprach nie über die
Vergewaltigungen. Wer konnte ihr das vorwerfen? Es war eine schwere Zeit
gewesen, wobei ihre Zurückhaltung nichts mit ihrem Gedächtnis zu tun hatte
oder an etwas gelegen hätte, das Psychologen Verdrängung nennen würden. An
ihre erste Vergewaltigung erinnerte sie sich noch ziemlich lebhaft. Der Mann
nahm sich die Zeit, die Tür zu schließen, legte sorgfältig den Riegel vor und
zog sich aus, bevor er sie auch nur einmal berührt hatte. Darin unterschied er
sich von den vielen anderen, die ihre Frauen stehend über einen Küchentisch
gebeugt nahmen, die Hose auf die Schuhe heruntergelassen. Ganze Schlangen
bildeten sich so, mit gelöstem Gürtel stand da Mann hinter Mann. Sonjas erster
verachtete solche Eile, fand sogar die Zeit, seine Socken zusammenzurollen und
sie in die von der Schmiere glatten Schäfte seiner Stiefel zu stecken. Er hatte
dürre weiße Beine, die nie irgendwelche Sonne gesehen zu haben schienen, nur
die Füße zeigten gewisse Anzeichen von Bräune. Auf seinem mageren Unterteil
wuchs ein solider Körper von der Farbe getrockneter Erde, sonnenverbrannt und
knotig wie eine Knollenwurzel. Sie hatte noch nie so etwas Groteskes gesehen.
Hinterher,
als er in seine Unterwäsche stieg, sah sie ihm staunend zu, wie er behutsam
den Gummibund vorzog und hineinlangte, um alles möglichst bequem unterzubringen.
Erst dann zog er seine Hose an und streifte sich das Soldatenhemd über den
Kopf, und während sie dalag und blutete, war sein Gesicht gelassen friedlich.
Er rieb sich Nacken und Wangen und freute sich über seine gute Gesundheit. Ist
es ein Wunder, dass sie die Männer hassen lernte? - das heißt alle bis auf
Pavel, der »sich in ihr Herz stahl« (ein schöner Ausdruck, denn ist nicht alle
Liebe Diebstahl?), während ihr Hass in ihr schlummerte, doch vielleicht
versteckte er sich auch nur vor der Kälte.
Das ist
sie, Sonjas Geschichte. Sie hasste, sie liebte, und über die Vergewaltigungen
wollte sie nicht sprechen. Ich selbst habe da keine Hemmungen. Schließlich
haben Sie ein Recht darauf, alles zu erfahren.
Etwas tat Sonja an diesem Tag
noch. Gelangweilt vor den Resten ihres Abendessens sitzend, entrollte sie das
Ende des Mikrofilms, das ein wenig schludrig aufgerollt schien, und fand bald
schon heraus, warum. Unversehens hielt sie plötzlich ein etwa anderthalb Meter
langes Stück in der Hand, das ganz offenbar vom Rest des Films abgeschnitten
worden war. Sonja studierte die Schnittstellen und kam zu dem
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