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Vyleta, Dan

Vyleta, Dan

Titel: Vyleta, Dan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pavel und Ich
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lebte Anders auf der Straße und schlief in Hauseingängen.
Der Krieg war zu Ende, und niemand kümmerte sich um einen kindlichen
Vagabunden, der in den Straßen herumzog. Die sowjetische Armee regierte die
Stadt, und es dauerte nicht lange, da gab es hunderte Straßenjungen wie
Anders. Paulchen und die Karlson-Zwillinge lernte er noch im Mai kennen, und
zusammen gründeten sie etwas, das eine kriminelle Organisation werden sollte,
eine Brüderschaft, eine eigene Gesellschaft en miniature. Bis vor kurzer Zeit noch waren sie
unzertrennlich gewesen. Tief in seinem Herzen, da bestand kein Zweifel, sehnte
sich Anders nach einem Ersatzvater, der ihm vor dem Schlafengehen Dickens
vorlas und sein Los mit ihm teilte. In Pavel hatte er einen gefunden, seiner
Nieren wegen und einer bestimmten Art, sich zu behaupten. Jetzt wohnte er bei
Sonja, frühstückte mit ihr und stellte ihr unbeholfene Fragen über Männer und
den Zwerg, indem er Worte benutzte, die er irgendwo in tausenden von
Radiosendungen aufgeschnappt hatte. Sie waren der alten Schauspielerin so
leicht von den Lippen gegangen.
    Sonja
hörte zu, wie er seine Geschichte erzählte, und legte eine Platte auf. Wenn er
auf Trost gehofft hatte, sie konnte ihm keinen geben. Was er erlebt hatte, war
eine Kriegsgeschichte von vielen. Sie hatte ihre eigene, und sie sehnte sich nach
einem Schluck Schnaps, im Moment ziemlich dringend, wo doch kein Tropfen zu
finden war.
    Nach
seiner Erzählung schlief er ein, und sie ... sie lief in der Wohnung auf und ab
und summte leise Jazzlieder vor sich hin.
     
    27. Dezember 1946
     
    D er 27.
Dezember nach dem gregorianischen Kalender, zehn Tage noch bis zur russischen
Weihnacht, zumindest für jene seiner Genossen, die sich über das Gesetz
hinwegsetzten und auch weiter dem trauten Geruch des Opiums des Volkes
verfallen waren. Ein kalter Tag, wenn er aus Moskau auch kältere gewohnt war.
Dmitri Stepanowitsch Karpow, General der Roten Armee, stand vor einem frisch
ausgehobenen Grab. Die Erde stank nach Benzin. Seine Helfer hatten den
gefrorenen Boden mit Feuer auftauen müssen, um ihn für die geschärften Kanten
ihrer Spaten zugänglich zu machen. Aber trotz aller Mühen hatte es nur zu einem
flachen Grab gereicht, kaum tief genug, um dem Sarg Platz zu bieten. Der Sarg
war aus altem Sperrholz zusammengestückelt, das hastig lackiert worden war, um
den Anschein von Würde zu erwecken. In Berlin herrschte Mangel an mannsgroßen
Kisten.
    Im Sarg
lag Karpows Assistent, Genosse Sergej Semjonowitsch Nechljudow,
sechsunddreißig. Mit einer Exfrau in Leningrad und einer neuen in Smolensk.
Drei Kinder: Anton, Jewgeni und Mascha. Sergej war in einer Seitenstraße
gefunden worden, ohne Gesicht. Dmitri Stepanowitsch musste noch seine Beileidsbriefe
schreiben. Statt Blumen legte er etwas Gesträuch auf den Sarg und rezitierte
für sich ein paar Zeilen Puschkin. Die Männer nahmen es als Zeichen, die Erde
zurückzuschaufeln.
     
    Der
General war ein sauber rasierter Mann mit grau meliertem Haar und
Metallbrille. Schlank und schlaksig, das Gesicht eine Maske. Er hatte Sergej
aufgetragen, sich nach dem Verhör an Jean Pavel Richter zu hängen. Richter
schien tatsächlich nichts über Söldmanns Verbleib gewusst zu haben, aber die
Tatsache, dass er in der Wohnung von Söldmanns Geliebter aufgetaucht war,
konnte nicht einfach so ignoriert werden. Um sicherzugehen, hatte Karpow in
der Zentrale nachgefragt, ob es eine Akte über den Mann gebe.
    Sergej
hatte sich nach Mitternacht telefonisch gemeldet, um zu berichten, dass er vor
dem Haus in der Seelingstraße Position bezogen habe. Er klang verfroren. Karpow
sagte ihm, dass man seine Dienste zu schätzen wisse.
    »Die Union
der Sozialistischen Sowjetrepubliken ist Ihnen zu Dank verpflichtet«, erklärte
er ihm.
    Sergej
antwortete, es erfülle ihn mit Stolz, ihr zu dienen.
    Um halb
sieben am nächsten Morgen meldete er sich ein zweites Mal. Er war in der Bäckerei
gleich an der nächsten Ecke gewesen, um sich ein paar Schrippen und etwas Tee
zu besorgen, und gleichzeitig hatte er auch ein paar Fragen gestellt. Der
Bäcker identifizierte die Frau auf den Überwachungsfotos als Bewohnerin von
Richters Haus. Sie war eine Weile weg gewesen, jetzt aber wieder da und
verfügte über mehr Brotmarken, als ihr zustanden, mochte Mohnschrippen
besonders gerne und lag ihm immer wieder wegen Pfannkuchen in den Ohren.
    »Ich habe
ihn gefragt, was das Problem damit sei, und er meinte, man brauche zu viel Öl
dafür, und er

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