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Vyleta, Dan

Vyleta, Dan

Titel: Vyleta, Dan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pavel und Ich
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Mondlicht fiel durch das Fenster auf dem
Treppenabsatz. Er sah einen Mann, unglaublich fett und eingehüllt in eine
Kaskade aus Pelz. Auf dem Kopf des Mannes wuchs kein Haar, es war eine
polierte Kuppel, glatt wie eine Weintraube. Über dem Kragen faltete sich der
Hals zu einer dicken, blassen Made. Sein Schritt erschien Anders als zu sanft
für einen Mann seines Umfangs.
    Anders
wartete, bis er die Haustür unten schlagen hörte, und ging dann vor der Tür der
Frau in Position. Den Eispickel hielt er in der Hand. Er fing an, bis hundert
zu zählen. Bei hundert, schwor er sich, wollte er hineingehen und ihr den
Pickel ins Herz rammen.
    Als er
fast bei neunzig war, kam sie heraus, trug einen Kasten mit sich, auf dem ein
Kreuz zu sehen war, und nahm seine Hand wie die eines Kindes. Er wehrte sich
nicht. Unten in Pavels Wohnung spürte er, wie der Gestank sie würgen ließ,
aber ihre Augen wurden sanfter, als sie den kranken Mann sah.
    »Pavel«,
sagte er und wog die Waffe in der Hand. »Diese Dame hier wird dir das Leben
retten.«
    Der kranke
Mann antwortete nicht. Als die Frau ihn fragte, was er habe, erst auf Deutsch,
dann in fließendem Englisch, hauchte er nur: »Die Nieren.« Sie nickte und ging
hinüber zum Telefon, um einen Arzt zu rufen.
    »Keine
Sorge«, hörte Anders sie in den Hörer sagen. »Ich habe Geld und Medikamente.«
    Anschließend
setzten sie sich jeder auf eine Seite des Betts und warteten auf Hilfe.
     
    Da haben wir's: Der Flügel lässt
seine Töne gerade in dem Moment erklingen, als der Tod an die Tür klopft. Eine
Nachbarin kehrt nach langer Abwesenheit heim in ihre Wohnung, ein Medizinkasten
liegt in ein Negligé gewickelt, und ein Arzt willigt mürrisch, und sicher auch
gierig, ein, mitten in der Nacht noch einen Hausbesuch zu machen. Lauter
Zufälle im Herzen unserer Geschichte. All das beschäftigt mich, seitdem ich die
Zusammenhänge kenne.
    Es lässt
sich jedoch nicht ändern, denn da war sie, die liebe Sonja, saß auf Pavels Bett
und strich ihm mit einem angefeuchteten Taschentuch über die Stirn. Eine Frau
in einem Tweedkleid, in einer Stadt, in der die meisten Frauen noch in den
Hosen steckten, die ihnen ihre im Krieg gefallenen Ehemänner und Väter
hinterlassen hatten. Sie trug Parfüm auf den Handgelenken und in jenen
sinnlichen Tälern, wo die Schlüsselbeine in den Hals münden. Trug Parfüm, aber
keinen Lippenstift. Den fand sie hurenhaft, was mancher aus ihrem Mund für
heuchlerisch hielt. Aber das hätte ihr niemand ins Gesicht gesagt.
    Sie werden
eine Beschreibung wollen, eine Studie ihrer Physiognomie. Wir müssen sie
kennen lernen. Ich will es versuchen, auch wenn ich sie nie im hellen
Tageslicht gesehen habe und daher dazu neigen werde, Schatten zu sehen, wo
keine sind. Dennoch will ich sie vor Ihnen heraufbeschwören, sie ist es wert.
Sie war wirklich außergewöhnlich, hatte ein außergewöhnliches Gesicht. Keinesfalls
ein Allerweltsgesicht, aber doch, natürlich auf seine Art, anonym genug, ein
Gesicht, wie man es auch in der Straßenbahn zu sehen bekommt, im Gedränge eines
Bahnhofs, nur dass man bei diesem Gesicht womöglich innehielte, es studierte
und sich wunderte, dass es einem zwischen all den anderen so auffällt. Es war
vielleicht etwas hübscher, schärfer geschnitten, fast wie geschnitzt. Ein
Gesicht mit breiten Wangenknochen, ein bisschen zu slawisch für ihre
Nationalität und für die Zeiten, die sie überstanden hatte, wenn ihr Pass sie
auch zu einer reinen Arierin erklärte. Die Lippen schwer, die Augen unter
eulenhaften Lidern verschleiert. Auf der Oberlippe ein feiner Flaum, obwohl sie
ihn regelmäßig auszupfte. Sie war zweifellos schön, allerdings musste man sich
erst einmal an ihre Schönheit gewöhnen. Sie hatte gute Zähne, einen sauberen
Atem und eine kehlige Stimme, die einen in den Wahnsinn treiben konnte, wenn
man dafür anfällig war. Eine moderne Frau in einem Tweedkleid. Sie trug
Lederhandschuhe, wann immer sie kein Klavier spielte.
    Noch etwas
anderes sollte erwähnt werden, obwohl man mir erneut vorwerfen wird, meine
Glaubwürdigkeit überzustrapazieren. Es gab da eine bemerkenswerte Ähnlichkeit
zwischen ihr und dem kranken Mann, die ich mir, wie ich glaube, nicht nur einbildete.
Tatsächlich kamen Anders die beiden fast wie Zwillinge vor, als die Frau da so
neben Pavel saß und er sie aufmerksam betrachtete. Diese hohlen Augen und das
schwarze Haar, der einzige Unterschied war, dass sie ihre Härte an der
Oberfläche trug, während

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