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Vyleta, Dan

Vyleta, Dan

Titel: Vyleta, Dan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pavel und Ich
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Pavel sie unter Schichten von Anstand verbarg, unter
Ruhe und sanftmütiger Unentschlossenheit - und doch (doch!) hielt ihn der Junge
für so unbeugbar wie die Zeiten selbst. Die beiden ähnelten sich auf geradezu
verstörende Weise. Ich würde wetten, dass es auch ihr auffiel, wie sonst ließe
sich die Haltung ihres Mundes erklären, und wie sie ihr Haar benutzte, um ihre
Gefühle dahinter zu verstecken?
    Aber ich
schweife ab, oder schlimmer noch, falle meiner Fantasie zum Opfer. Auf jeden
Fall machten die beiden Bekanntschaft, Sonja und Pavel. Der Arzt kam und
stopfte ihn mit Medikamenten voll. Sie kochte ihm Hühnersuppe aus einer
englischen Konservendose, die sie von oben holte, und als der Junge erschöpft
einschlief, saß sie noch eine Weile da, lauschte seinem Schnarchen und suchte
in der Wohnung gelangweilt nach Hinweisen auf ihren Bewohner.
    Sie fand
vor allem einen, obwohl der ziemlich zugerichtet war: einen Zwerg in einem
Koffer, mit blutendem Kopf, die hölzernen Füße ohne Strümpfe.
    Das gab
ihr zu denken.
     
    Den Arzt rührte die Not seines
Patienten nicht weiter. Er ließ seine langgliedrigen, schmuddeligen Hände über
Pavels Körper gleiten, roch an dessen Nachttopf und studierte die Farbe des Inhalts
mit einer Taschenlampe. Er steckte ihm ein Thermometer unter die Zunge und fuhr
mit der Hand hinunter zu Pavels Hoden, als wollte er ihre Größe messen. Sonja
studierte seine Bewegungen und den freigelegten Körper des kranken Mannes,
ließ den Blick über das doppelte Rippengatter gleiten und dachte an den
Gipsjesus, der im Wohnzimmer ihrer Familie gehangen hatte, bis eines Tages bei
einem Luftangriff die Arme abgebrochen waren. Pavels Schlüsselbein bildete
einen vogelartigen Höhenkamm, und im Nacken bog sich die Wirbelsäule knochig
wie ein Fischgerippe. Verfilztes schwarzes Haar hing klumpig und krank in den
Achselhöhlen. Sonja streckte die Hand aus, um ihn zu berühren, hielt jedoch
inne, bevor ihr Handschuh seine Haut berührte. Es war schwer, mit etwas so
Hässlichem Mitleid zu haben.
    Wachsam
und argwöhnisch beobachtete der Junge die Untersuchung und wartete auf die
Diagnose, die Leben oder Tod bedeuten würde.
    »Eine
leichte Infektion«, erklärte der Arzt, »und eine schwere Erkältung. Er ist
bereits auf dem Weg der Besserung.«
    Er zog
Pavels Hose ein Stück herunter, injizierte den Inhalt einer kleinen Ampulle in
die entblößte Hinterbacke und steckte ihm zwei fingerknöchelgroße Pillen in den
Mund.
    »Und jetzt
zur Frage des Geldes.«
    Sonja
streckte die Hand aus, um ihn zu bezahlen, doch der Junge hielt sie fest.
    »Er wäre
fast gestorben«, warf er dem Arzt entgegen, reckte das Kinn und hob die zu
Fäusten geballten Hände. Zum ersten Mal hörte Sonja den Straßenjungen an seiner
Stimme heraus. Der Arzt zuckte mit den Achseln und griff nach dem Bündel
Reichsmark und der ungarischen Wurst, die Sonja zur Bezahlung zurechtgelegt
hatte.
    »Wie Sie
wollen.«
    Das Geld
zählend, die Wurst in der schmuddeligen Faust, ging er hinaus.
    »Sie sind
ein Quacksalber«, schrie der Junge hinter ihm her. »Ein Quacksalber, hören
Sie?«
    Die Worte
schallten durch das Treppenhaus und forderten den Mann zu einer Reaktion
heraus. »Entarteter, dreckiger kleiner Untermensch«, rief er zurück.
    Im
Eingangsflur kam der Arzt an der doppelten Acht vorbei und murmelte den Gruß,
der zu den Ziffern gehörte. Draußen schlüpfte er aus einem seiner Fäustlinge
und grub in der Tasche nach dem Fläschchen mit Pillen, das er aus dem Kasten
der Frau gestohlen hatte. Die würden ihm für die nächsten paar Wochen die
Kohlen bezahlen.
     
    Dann eine schlaflose Nacht, ein
geöffneter Koffer, der leere Blick der Leiche. Sie ertrug ihn nicht und schloss
den Deckel wieder. Der kranke Mann fantasierte zwischendurch, rief nach einem
Mann namens »Boyd«, der »gesagt hatte, er würde kommen«. Das brachte sie ins Grübeln.
Sie ging nach oben und holte sich etwas Wein, der ihr beim Denken Gesellschaft
leisten sollte.
    Am
Vormittag, bei einer Rinderbrühe, bot sich zum ersten Mal die Gelegenheit zu
einem Gespräch. Die Suppe stammte aus einer der Konserven, die ihr der Colonel
dagelassen hatte. Sonja vermied es, auf die Leiche zu sprechen zu kommen.
Stattdessen wollte sie etwas über sein Leben erfahren. Dabei wusste sie bereits,
dass sie ihn noch am gleichen Abend verraten musste.
    »Sie
arbeiten als Dolmetscher?«
    »Ja.«
    »Für die
Army?«
    »Früher.
Ich habe aufgehört. Es war nicht mehr das

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