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Vyleta, Dan

Vyleta, Dan

Titel: Vyleta, Dan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pavel und Ich
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wandte den Blick dem Fenster zu. Sonja drängte sich
neben den Colonel und zog den Jungen auf ihren Schoß. Die beiden Gefreiten
stiegen vorne ein, zündeten sich Zigaretten an und rieben sich die Hände warm.
Schweigend fuhren sie durch das zerstörte Berlin, dessen Trümmer zu
zerklüfteten Gebäuden aus Eis und Stein gefroren waren.
     
    Ich habe oft darüber nachgedacht,
was der Colonel bei diesem ersten Zusammentreffen von Pavel Richter gehalten
haben mag. Natürlich habe ich ihn das nie gefragt, das kam mir nicht zu. Ich
denke, es muss Verachtung gewesen sein, die Verachtung des dominanten Gorillas
für den kränkelnden Kümmerling der Gruppe. Aber wer weiß das schon? Vielleicht
erkannte er auch hinter Pavels Krankheit und Sanftmut sofort jenen harten Kern,
den ich selbst erst so spät entdeckte. Wenn dem so war - der Colonel war ein
Menschenkenner mit dem feinen Auge eines Romanciers -, dann ist anzunehmen,
dass er in seinem Herzen einen Platz für Pavel fand. Der Colonel war ein
großmütiger Mensch, selbst seinen Feinden gegenüber. Darin habe ich ihm nie
folgen können. Ich bin ein einfacher Mann und daher ängstlich gegenüber jenen,
die mir ein Leid zufügen können.
    »Peterson«,
sagte der Colonel oft zu mir, »Sie haben ein Hasenherz. Einen Magen wie ein
Schwein, geschickte Hände, gute Umgangsformen, sind immer pünktlich. Aber Ihr
Herz, Peterson, Ihr Herz.«
    Das sagte
er und kniff mir dann in die Backe, als wäre ich irgendein Botenjunge. Ich war
nie Manns genug, dagegen zu protestieren.
    Die Fahrt dauerte nur Minuten. Sie
blieben im britischen Sektor. Pavel hatte nicht gewusst, dass die Briten ihr
eigenes Leichenschauhaus hatten, begriff jedoch schnell, dass sie einen Ort
brauchten, an dem sich die Leichen unterbringen ließen, von denen die Sowjets
nichts wissen sollten. Die Russen kontrollierten die Stadtpolizei, aber es gab
mehr als ein Gesetz in Berlin und weitgehende Uneinigkeit darüber, ob eine
Kugel im Herz als natürlicher Tod betrachtet werden sollte. Von außen sah man
dem Gebäude seinen Zweck nicht an: Von den roten Wänden blätterte der Putz,
und am Tor stand ein frierender Soldat. Sie fuhren in den Hof und parkten
irgendwo in seiner Mitte. Der Fahrer holte den versprochenen Rollstuhl. Noch
einmal versuchte der Junge, Pavels Schicksal in die Hand zu nehmen, doch ohne
Erfolg: Der Colonel trat ihm wie zufällig in den Weg und legte seine
Neugeborenenhände auf die Griffe des Rollstuhls. Durch eine Tür ging es in
einen mit Linoleum ausgelegten Korridor, ein klappriger Aufzug von der Form eines
barocken Zookäfigs beförderte sie in einer quietschenden, schier endlosen Fahrt
in die Tiefe. Sonja stand mit gespreizten Beinen über den sperrigen Rädern des
Rollstuhls und drückte Pavel die Brust gegen das Ohr. Pavel wurde rot und
verspürte das Bedürfnis, sich für eine Zudringlichkeit zu entschuldigen, die
keine war, und für einen Umstand, der außerhalb seiner Kontrolle lag. Nur die
wuchtige Anwesenheit des fetten Mannes hielt ihn davon ab. Nach dem Aufzug kam
ein weiterer Korridor mit Linoleumbelag, ein Eingang mit doppelter Schwingtür
wie zwischen Küche und Gastraum eines Restaurants und eine stählerne
Krankenbahre mit einem steifgliedrigen Leichnam. Ein Tuch bedeckte seinen
Freund, und einen Moment lang bildete sich Pavel gerne ein, dass das alles eine
Verwechslung war, dass Boyd noch lebte und es sich in einer der Gin-Absteigen
des US-Sektors gut gehen ließ, immer ein Auge darauf, wie sich seine Mädchen
an einen Soldaten heranmachten oder an einen der zahllosen Schreiberlinge, die
auf der Suche nach ihrer Muse in die Stadt eingefallen waren. Die Hand, die
unter dem Tuch hervorsah, war zu einer lockeren Faust gebogen. Die Fingernägel
fehlten, waren wie Blätter von ihr heruntergepflückt worden und ließen weiche,
dunkel angelaufene Haut sehen. Pavel schien es unmöglich, dass das Boyds Hand
sein sollte. Ein Mann in einem Laborkittel trat heran. Er trug seine Brille wie
einen Schild. »Voilà«, murmelte er und warf das Tuch zur Seite. Zum Vorschein
kam ein zerschlagener Körper.
    Es war
Boyd.
    Zerschlagen.
    Von seinem
Rollstuhl aus konnte Pavel nicht sagen, was ihn getötet hatte.
    Er würgte
und schmeckte Galle. Sie kam zwischen den zusammengepressten Lippen hervor und
rann ihm das Kinn hinunter, Speichel und Magensäfte warm auf der stoppeligen
Haut. Er versuchte, sich hochzukämpfen, fiel zurück auf seinen Sitz, wollte
schreien, fand aber keine Luft in der Lunge. Mein

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