Vyleta, Dan
versorgte.
Er laugte
mich aus, dieser lange Tag voller Fragen. Als ich dachte, ich würde es nicht
mehr aushalten, holte ich mein Schachbrett hervor und tat so, als spielte ich
eine Partie mit meinem Bruder, der vor langer Zeit durch eine bekannte Mischung
aus Patriotismus und Senfgas umgekommen war, eingeklemmt in eine öde Furche
französischer Erde. Mit jedem gefallenen Bauern zwang ich mich zur
Formulierung einer weiteren Frage. Bei einem Läufer waren es drei, bei einer
Königin ein halbes Dutzend. Als mein König fiel, wusste ich, dass es Zeit war
zu gehen.
Es war
bereits nach neun. Ich stand auf, trat an seinen Käfig und wünschte ihm eine
gute Nacht. Pavel saß auf der Ecke seiner Matratze, nickte, erwiderte meinen
Abschiedsgruß aber nicht. Einem Impuls folgend, ging ich in die Hocke und sah
ihm in die Augen.
»Ich will
doch nur«, sagte ich, »dass wir wie Männer miteinander reden.«
Er wandte
sich ab und fuhr sich erschöpft mit der Hand durchs Haar.
Ohne ein
weiteres Wort ging ich hinaus und schaltete oben an der Treppe das Licht aus,
um ihn in totaler Finsternis zurückzulassen. Die Tür schloss sich mit einem
angenehmen leisen Klicken hinter mir.
Im
Wohnzimmer der Villa herrschte noch Leben, und ich blieb einen Moment lang in
der Tür stehen, um den Kindern des Colonels bei ihren Scharaden zuzusehen:
einem Jungen und einem Mädchen, die beide in ihre guten Sonntagssachen
gekleidet waren und sich in einer Geheimsprache austauschten. Aus dem Grammofon
ergoss sich eine Oper und ertränkte ihre Stimmen, irgendetwas Deutsches mit zu
viel Blech im Orchester. Erst sah ich die Mutter der Kinder nicht. Sie saß im
Schatten des Weihnachtsbaums, mit steifem Rücken, die Hände im Schoß und die
Beine unter sich gezogen. Als sie aufstand, um mich zu begrüßen, stellte ich
fest, dass sie weinte.
»Wünscht
dem Herrn eine gute Nacht«, forderte sie ihre Kinder auf. »Mr Peterson,
richtig?«
»Ja,
Ma'am.«
Das
Mädchen machte einen Knicks, und der Junge schüttelte mir die Hand. Beide taten
ihr Bestes, nicht auf meine Augenklappe zu starren.
»Gute
Nacht«, sagte die Mutter.
Alle drei
hatten ganz ausgezeichnete Manieren.
»Ich will doch nur, dass wir wie
Männer miteinander reden, Pavel.«
Ich sagte
es leichthin, aus einem Gefühl heraus, um ihn an mich zu ziehen und sein Herz
zu ködern. Wobei ich mich frage, wie viel Wahrheit schon damals, in jenen
frühen Tagen des Verhörs, in diesen Worten lag. Im Rückblick kann ich mich nur
schwer in jene Zeit zurückversetzen, in der mein Herz noch nicht schwer war von
dem Gedanken an Pavel. Etwas an diesem Mann sprach mich an: seine Sanftheit,
seine ruhigen, guten Manieren. Er war würdevoll, selbst wenn er Wasser ließ.
Tief im Keller seines Feindes, von seinem Wärter mit Fragen gepeinigt.
Aber das
sage ich heute, in der Illusion nachträglicher Verklärung. Damals, nach meinem
zweiten Tag mit Pavel, lag ich erschöpft schnarchend im Bett, ohne eine
Ahnung, was mir noch bevorstand. Trug eine Wollmütze und drei Socken
übereinander, auf dem Nachttisch tickte der Wecker neben einem halb eingefrorenen
Glas Wasser und im Bad hing meine Augenklappe an ihrem Haken. Mit dem ersten
Tageslicht stand ich auf, bügelte mein Taschentuch und plante meinen nächsten
Schritt. Die Sonne hing niedrig und schwach am Himmel und vermochte kaum die
Kuppen der Schuttberge zu überwinden. Ich fuhr zur Arbeit, übte Worte und Strategien
ein. Meine Gedanken waren bereits bei Pavel.
Man fragt sich, wie Pavel die
Nächte verbrachte, abgespannt, schwitzend, von allem Leben abgeschnitten.
Zuallererst wird er seinen Käfig erkundet haben, mit den Händen über die Gitterstangen
gefahren sein und am Schloss gerüttelt haben. Vielleicht hat er sich auch
hingekniet, das Hemd hinter dem Kopf gespannt, und hebräische Silben geformt,
die er selbst kaum verstand. In jener zweiten Nacht muss die Überzeugung in ihm
gewachsen sein, dass er nicht gefoltert werden würde. Vielleicht deutete er das
als Zeichen, dass der Colonel die Ware längst an sich gebracht hatte und er,
Pavel, unauffällig hingerichtet werden sollte. Man kann sich vorstellen, wie
er den Gedanken akzeptierte, eine Kugel von unten in den Schädelansatz zu
bekommen, oder auch einen Schlag mit dem Spaten, falls kein Lärm gemacht werden
sollte. Es wird eine lange, dunkle Nacht gewesen sein, die er da schwitzend auf
dem Stroh seiner Matratze verbrachte, ohne je ein Auge zuzutun, den Kopf voller
scheuer, zerbrechlicher
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