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Vyleta, Dan

Vyleta, Dan

Titel: Vyleta, Dan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pavel und Ich
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Unannehmlichkeiten
der Existenz aus ihrem Leben auszublenden. Man kann es an Ihrem Mund sehen, dem
Schwung Ihrer Lippen. Lassen Sie mich Ihnen eines sagen, Mr Richter: Ich ziehe
Ihnen den Colonel jederzeit vor. Zugegeben, er ist kein angenehmer Mensch, aber
ein ehrlicher. Er sieht dem Leben ins Auge. Sie sind von der Normandie bis
hierher nach Berlin marschiert, die Waffe in der Hand, und jetzt tun Sie so,
als wäre das alles nie passiert. Keinen Gedanken haben Sie dafür.«
    Ich
spuckte ein Stück Knorpel aus und hoffte bei Gott, er würde anbeißen.
    Am Ende
reagierte er, aber er nahm sich reichlich Zeit für seine Entscheidung, endlich
etwas zu sagen. Er saß trübsinnig auf seiner Matratze, den Kopf in einer Hand
vergraben, und schob das Dosengemüse auf seinem Teller hin und her. Legte das
Besteck zur Seite, stellte den Teller auf den Boden und stand auf. Trat mit
zwei ewig langsamen Schritten ans Gitter. Sein Gesicht hatte einen besonders
feierlichen Ausdruck angenommen. Ich erinnere mich, dass ich dachte, dieser
Mann trägt seine Tragik wie eine Dame ihre Stola. Sie passte so gut zu seinen
Augen.
    »Früher
habe ich viel darüber nachgedacht«, begann er. »Ich habe eine Liste angelegt,
mit allen schlimmen Dingen, die im Krieg passiert sind, im Krieg und während
der ersten Friedensmonate. Den übelsten Dingen. Ich habe sie einfach
aufgeschrieben, ungerührt sozusagen. Ich erinnere mich ganz deutlich, wie ich
dieses Wort gebrauchte: ungerührt. So saß ich
bis spätnachts an meiner Schreibmaschine, der Mond draußen vor dem Fenster
...«
    Plötzlich
brach er ab und setzte sich auf seine Matratze. Ich ließ ihn ein paar Minuten
in Ruhe, während er mit gebücktem Rücken dasaß, den Kragen steif von
eingetrocknetem Schweiß.
    »Was stand
auf der Liste?«
    Es dauerte
Stunden, bis er so weit war, mir zu antworten. Aber dann sprudelte es wie eine
Prophezeiung aus ihm heraus.
     
    Ich glaube nicht, dass er es
wollte. Man konnte es an seinem Ausdruck erkennen, an den hohlen Wangen und
der zerfurchten Stirn: Wie er sich sagte, er solle besser den Mund halten. Kein Wort, wird er sich geschworen haben. Sag bloß kein Wort mehr. An Boyd wird er sich erinnert
haben. Wie er getötet worden war. Blaue Fingerspitzen, wird er sich gesagt haben, und auf dem Hodensack
haben sie ihm Zigaretten ausgedrückt. Er zauderte so lange, dass ich auf
meinem Stuhl einschlief.
    Als ich
aufwachte, hockte er unten vor den Stäben, so tief, dass ich ihn erst gar nicht
sah, und hatte seine Geschichte bereits begonnen. Ich nehme an, er redete
schon eine gute halbe Stunde, die Stimme so leise, dass ich mein Atmen auf
seinen Rhythmus einstellen musste.
    »Nummer
siebzehn«, flüsterte er. »Anfang Mai 1945. Eine Mädchenschule in Schöneberg
während der letzten Tage der Kämpfe. Die Lehrerin erklärt der Klasse, dass die
Roten, wenn sie die Stadt erst eingenommen haben, sie vergewaltigen werden.
Dass sie nachts in ihre Betten kriechen und sie vergewaltigen werden. Sie sagt
ihnen: >Wenn sie euch vergewaltigen, bleibt euch nur noch zu sterben.<
Bis Ende der Woche ist ein Drittel der Mädchen ihrem Befehl gefolgt. Entehrt
sind sie aus Fenstern gesprungen, haben sich an Hoftoren aufgehängt, in
Pferdetrögen ertränkt. Der Rest lebt sein Leben weiter, befleckt. Die Lehrerin
wird ebenfalls vergewaltigt. Sie zieht zu einem russischen Unteroffizier.
Mittlerweile hat sie einen amerikanischen Gl aus New Orleans geheiratet. Als
eine ihrer Schülerinnen sie auf der Straße trifft und sie fragt, wie es ihr ergangen
ist, zuckt die ehemalige Lehrerin mit den Schultern. >Wie du siehst<,
sagt sie, >habe ich mich verliebt.< Sie schenkt dem Mädchen ein paar
Brotmarken. Die beiden sehen sich nie wieder.
    Nummer
neunundzwanzig. Juli 1945. Zwei Kinder spielen draußen im Wald. Sie spielen
Verstecken. Eines von ihnen fällt in einen kleinen Graben und scheucht eine
Million Fliegen auf. Es stinkt dort unten, und ein Arm hängt aus dem Gebüsch.
>Komm da raus<, schreit der Bruder. >Einen Augenblick<, bekommt er zur
Antwort. Der Junge im Graben hat einen Stiefel mit etwas darin gefunden, und
einen Munitionsgürtel. Er hebt beides auf und spielt damit, zieht den Stift aus
der Granate. Die Explosion tötet ihn und zerfetzt die Trommelfelle des
Bruders. Der steht da, der Blitz hat ihn geblendet und die Welt ist in Stille
versunken. Er steht da und schreit. Stunden später finden ihn seine Eltern.
Später am Abend versichert der Mann seiner Frau, dass es das Beste sei:

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