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Vyleta, Dan

Vyleta, Dan

Titel: Vyleta, Dan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pavel und Ich
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>Wir
hätten niemals alle beide durch den Winter gebracht<. Der Junge hört ihn
nicht. Seine Ohren werden nie wieder heilen.
    Nummer
einunddreißig. Frühling 1946. Zwei englische Soldaten in einer Kneipe. Sie
sind sehr betrunken und setzen dem Wirt in schlechtem Deutsch zu. Ein paar
Russen kommen herein, sie haben drei Flaschen Wodka dabei. Ohne besonderen
Grund schlagen sie sich auf die Seite des Wirts. Schon kommt es zu einer
Schlägerei. Die Engländer, in der Unterzahl und bereits mit blutigen Nasen,
ziehen ihre Waffen. Die Russen tun es ihnen gleich und suchen hinter der Theke
Schutz. Die Schießerei geht los, aber alle sind so betrunken, dass niemand
getroffen wird. Als die Magazine leer sind, rufen sie einen Waffenstillstand
aus und trinken die letzte Flasche Wodka gemeinsam. Zehn Minuten später
verlassen sie die Kneipe, wo eine Menschengruppe um eine tote Frau mit einem
Schuss in der Brust steht. Sie wurde durchs Fenster von einem Irrläufer
getroffen. Die Russen geben Fersengeld, aber einer der Engländer drängt sich
durch die Leute und schiebt der Frau den Pullover hoch, um die Wunde zu sehen.
Es ist nichts mehr zu machen, sie war sofort tot. >Eine Schande<, erzählt
der Soldat seinen Kameraden am nächsten Morgen beim Frühstück. >Die hatte
unglaubliche Titten.< Die anderen lachen und sagen, er solle das Maul
halten.
    »Nummer
dreiundvierzig. Januar 1946 ...«
    Aber ich
hatte genug gehört. »Okay, okay, ich verstehe, was Sie meinen. Das Leben ist
hart, die Menschheit gierig, launisch und undankbar ... Mit einem Wort: Wir
sind alle zusammen Mistkerle. Ist es das, was Sie so zum Rasen bringt?«
    Er zuckte
mit den Schultern und hielt meinem Blick stand.
    »So in
etwa.«
    »Und was
ist mit Ihnen?«, fragte ich. »Wen stören schon die anderen? Taube Kinder und
ein paar kaputte Titten. Erzählen Sie mir von sich, Pavel. Was haben Sie im
Krieg gemacht, wenn Sie nicht gerade dabei waren, Listen anzulegen?«
    Aber er
lächelte nur, wandte sich ab und setzte sich zurück auf seine Matratze. Ich
begann, mich zu fragen, ob ich je etwas über diesen Mann erfahren würde, das
über sein sanftmütiges Lächeln hinausging.
    Die
nächsten zwei Stunden saßen wir in völligem Schweigen da.
     
    Man fragt sich, ob er Boyd seine
Geschichten gezeigt hat. Ob er sie oben in seinem Zimmer mit der
Schreibmaschine zu Papier gebracht und dann seinem Waffenkameraden gegeben
hat, darauf achtend, ob sein Gesicht irgendeine Regung zeigte. Zwei rauchende
Männer und das Rascheln von Papier. Boyds Reaktion wird ähnlich wie meine
gewesen sein.
    »Du nimmst
es zu schwer«, wird er gesagt haben. »Genieß das Leben ein bisschen.«
    Die Stimme
leicht sauer, weil sich Pavel standhaft weigerte, ihn in seinem Bordell zu
besuchen.
    Es ist
schwer zu rekonstruieren, was die beiden zueinander hinzog, Boyd White und
Pavel Richter. Ich jedenfalls habe ihre Freundschaft nie ganz ergründen können.
Es könnte sein, dass Boyd Pavel nach seinem Tod wichtiger war als vorher. So
etwas kommt vor. Ich habe oft festgestellt, dass Vergangenes klarer und
nachhaltiger empfunden wird. In der Gegenwart fällt es einem oft schwer,
überhaupt etwas zu empfinden.
     
    Gegen Ende des Tages fing Pavel
an, auf mir herumzuhacken. Es muss ihn geärgert haben, dass er so viel
preisgegeben hatte, sein Wortschwall roch nach Kollaboration mit seinem Wärter.
Ich konnte es in seinen Augen sehen, da lauerte ein neu entdeckter Zorn, der
aus seiner gewohnten Sanftmut herausstach und nach Konfrontation hungerte.
    Es ging
ganz unschuldig los. »Woher stammen Sie eigentlich?«, fragte er mich am späten
Nachmittag, wie gewohnt auf seiner Matratze hockend.
    »Aus
London«, erklärte ich ihm, bevor ich es mir anders überlegen konnte. »Aus dem
East End.«
    »Sie
klingen aber nicht englisch. Ihr Akzent vielleicht, aber Ihre Worte, die kommen
von überall her.«
    Ich
lächelte. Es freute mich, dass ihm das aufgefallen war. »Ich war viel
unterwegs, da schnappt man schon mal was auf. Nach einiger Zeit habe ich ein
Spiel daraus gemacht.«
    Ich weiß,
ich hätte es nicht tun sollen, aber ich zeigte ihm mein kleines Notizbuch, in
dem ich schon seit einer ganzen Weile alle besonderen Redewendungen und
alltagssprachlichen Ausdrücke notierte, die mir unterkamen.
    »Sehen
Sie, hier gibt es ein ganzes Kapitel mit Ausdrücken von Übersee. Dope fiend, das ist ein Junkie, ein pussy hound rennt jedem Rock hinterher, und to make whoopee, das bedeutet Liebe machen. Das
sind lauter hübsche

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