Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wach (German Edition)

Wach (German Edition)

Titel: Wach (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albrecht Selge
Vom Netzwerk:
die Zeit still, ein ewiger Frühlingstag, ein Frühling ohne Heuschnupfen, nie vergehender Beginn.
    August kommt zum Mittelpunkt des Centers, dem Großen Marktplatz. Von hier aus laufen die sieben Gänge der Mall sternförmig auseinander, die Boulevards Istiklal Caddesi, Kärntner Straße, Via Condotti, Champs-Élysées, La Rambla, Oxford Street, 5 th Avenue: zum Flanieren einladende Straßen, in denen sieben Weltstädte authentisch erlebbar werden. Jetzt noch ruhend, führen Rolltreppen und gläserne Aufzüge vom Großen Marktplatz ins Untergeschoss, zu den Lebensmittlern im Gastro-Walk, und ins Obergeschoss, zu Panorama-Cafés und Kinderbetreuung, Sportstudio und Erlebnisbad, Multiplex, Entertainment-Center, Arztpraxen. Die Mitte des Großen Marktplatzes ist mit Bauzäunen abgesperrt, aus dem aufgerissenen Boden ragen, wie Tentakel eines einbetonierten Tintenfischs, große, verplombte Wasserrohre hervor: Hier wird bald die neueste Attraktion stehen, der Trevibrunnen im Maßstab eins zu eins, sechsundzwanzig Meter hoch und zwanzig Meter breit, einschließlich der brunnenseitigen Fassade des Palazzo Poli; an die Stelle des restlichen Palastes wird ein einfacher Pavillon treten, Info-Polis, die Zentrale Besucherinformation. Was hält mich zusammen, fragt sich August.
    Meine Haut, fällt ihm ein, als er wieder im leeren Büro sitzt, vor dem dunklen Bildschirm, er schiebt Anzugärmel und Hemd hoch und betrachtet seine Haut: noch glatt, ein wenig trocken, kaum sichtbare Schüppchen, helle Härchen; dieser Zusammenhalt kommt ihm dubios vor, er wundert sich, dass nicht immerzu Menschen die Haut platzt wie eine zu voll gestopfte Einkaufstüte. Er legt die Hand auf die Brust und spürt nach seinem Herzschlag: pocht, unruhig. Er ist wach und dabei müde auf eine Art, dass weder Kaffee noch kalte Duschen helfen, er befindet sich in einer Grundmüdigkeit, die ihn nicht gähnen, aber an Herz und Haut zweifeln lässt. Er schaltet seinen Computer an und nimmt zwei Airmen-Beans aus der Packung, das Geheimnis südamerikanischer Piloten, nach stundenlangen Einsätzen unglaublich hohe Leistungsfähigkeit, Bohnen aus Kaffee und Guarana, gerösteter Samen brasilianischer Lianen, bereits die Inkas, nach neuesten Erkenntnissen überarbeitet, edelste Pastillen zuckerfrei mit Süßungsmittel* und Guarana-Extrakt, zahnfreundlich, kalorienreduziert: Hier beginnt das Abenteuer deines Lebens. (*Kann b. übermäß. Verzehr abführend wirken.) Das Logo der Mall schwebt über den Bildschirm: Bequemheit erleben , und als sein Desktop erscheint, kommen August die Verknüpfungssymbole heillos fremd vor, eine Sekunde lang kann er sich nicht vorstellen, dass man eine gesuchte Verknüpfung jemals finden könnte.
    Dokumentvorlage Editorial:
LustschlösschenCenter Aktuell  – Monat
Editorial
Headline
Liebe Leserin, lieber Leser ,
Text
Herzlichst, Xerxes
    August blättert in der letzten Ausgabe, die vor ihm auf dem Tisch liegt, sechzehn Seiten Werbung, die monatlich den Zeitungen der Region beiliegen, auf Seite eins steht der schlanke Kasten mit Foto von Xerxes und dem Mai-Editorial. Er schreibt immer zwei Wochen im Voraus für den nächsten Monat, am Anfang hat er Xerxes’ Style-Guide benutzt, mittlerweile schüttelt er den Sound aus dem Ärmel. Er lässt die Dokumentvorlage offen und schaut seine E-Mails durch: versaute Großmütter, finanzielle Chancen in Nigeria, russische Kasinos – jeder Arbeitstag beginnt mit dem flüchtigen Blick in einen Abgrund. Ein Bekannter bietet August eine frei gewordene Karte an für Brahms und Rääts (ein Este), ein anderer schickt einen witzigen Link. Susanne berichtet hastig, wie es in London läuft, und von einem Konzertbesuch (sie hat wenig Zeit, aber dafür nimmt sie sich Zeit). August sollte darüber nachdenken, was er tun wird, wenn Susanne Klarheit hat über ihren Status in der Bank; und kauft eine CD mit Liedern von Webern und einige Packungen Ritalin und Modafinil. Dann wechselt er auf eine Nachrichtenseite. Kapstadt versucht, eine Pavianplage in den Griff zu bekommen, den Touristen wird das Füttern der Tiere in Parks und Straßen verboten. Diskussion über eine sozialpolitische Reform, ein Vertreter der Regierung ist dafür, seine Argumente überzeugen August, er nickt beim Lesen zustimmend, ein Oppositionspolitiker ist dagegen, auch seine Argumente leuchten August ein (so geht es ihm immer mit der Politik, er kann allem zustimmen, wenn er die Argumente hört; der Widerspruch ist ihm klar, aber er kann

Weitere Kostenlose Bücher