Wach (German Edition)
Untergeschoss, wo die Lebensmittelläden und Restaurants liegen. Hier sind die Kulturen bunt gemischt, zwischen Pinien, Palmen und Bambus gibt es Goldbrasse aus der Ägäis, Esterházytorte, Manhattan-Muffins, Escargots à la bourguignonne, westafrikanische Banana Fritters, Kanton-Ente mit Mangosoße. Das Divertimento, ein überlaufener Italiener, ist immer konsensfähig, Gruppen mit Frauenmehrheit gehen gern zu Caribbean-Thai Fusion Food ins Jamaika/Bangkok, hungrige Männergruppen entscheiden sich fürs Schlaraffia, wo man durch eine üppige Büfettlandschaft spaziert. August hängen alle Lokale zum Hals heraus. Außerdem hat es gestern im Divertimento eine unangenehme Szene gegeben: Die Unterhaltung war harmlos, jemand streifte im Plauderton ein politisches Thema, irgendeine Reform, da kam es zu einer unerwarteten Eruption, ein Mann vom Accounting ereiferte sich über das Thema und beharrte auf seiner Meinung, obwohl niemand ihm antwortete oder gar widersprach. Seine Empörung war geradezu körperlich spürbar. Diese Hingabe löste Beklommenheit aus, man stocherte in Gemüse-Piccata, Spargelrisotto, Putensaltimbocca, horchte auf die Hintergrundmusik ( La donna è mobile ), allen war die engagierte Rede peinlich; mehrere Versuche, das Thema zu wechseln, scheiterten an der Beharrlichkeit des wütenden Kollegen. Dabei war der Mann nie zuvor als Fanatiker aufgefallen. Alle atmeten auf, als die Pause zu Ende war.
Heute will August im Supermarkt eine Banane und ein Joghurt kaufen und zum Nachtisch bei Manon Lescaut einen Crêpe essen. Auf dem Weg zum Supermarkt überlegt er schon, welche Geschichte er heute mit ihr tauschen will. Da liest er: ich liebe es ® . Hinter der Scheibe sitzen zwei Security-Männer und essen Pommes frites. Vor einigen Tagen hat August seine Schwester angerufen, um Pläne für den siebzigsten Geburtstag ihres Vaters zu besprechen; es sind noch vier Monate, aber seine Schwester will immer alles so früh wie möglich regeln. Doch bevor er aufs Thema Geburtstag kommen konnte, erzählte sie in einem Ton, als wäre sie eben überfallen worden: Ich bin gestern früh über den Marktplatz zum Institut gegangen, da habe ich im Schaufenster eines Schnellrestaurants lesen müssen: ich liebe es, und ich habe mich sehr darüber aufgeregt, und zugleich habe ich mich darüber aufgeregt, wie läppisch und unsinnig es ist, dass ich mich darüber aufrege; aber bitte, mein Junge, was schwingt nicht alles im Wort Liebe mit: das Höchste des Menschen, der Eros, der nach Platon die ganze Welt beseelt und antreibt, die Agape des Matthäus-Evangeliums und der Paulusbriefe; und nun – Eros und Agape halbseiden gemacht von Werbedemagogen, einer Beziehung ausgeliefert zu einer so primitiven Form von Nahrungsaufnahme: Das ist Blasphemie, im Grunde, eine Schande, und zwar nicht einmal wegen der Anmaßung, sondern wegen des schrecklichen Wahrheitsgehalts, denn die Verbindung von Liebe und Bulette zeigt ja, wie weit – ich sage: wie weit der Mensch unter seinen Möglichkeiten bleiben kann. August hat die ganze Zeit über nichts gesagt; er musste daran denken, dass seine Schwester schon als Schülerin in ein gestörtes Verhältnis zum Essen getreten ist. Aber er ist ja selbst Vegetarier (außer Fisch), ist das auch eine Verhältnisstörung? Im Zentrum seiner Wahrnehmung steht jetzt das ®, seltsam, dass seine Schwester sich nicht darein verbissen hat. Ihre Aufregung erinnert August an den Ausbruch des Kollegen im Divertimento. Dabei beneidet er seine Schwester um die Ordnung, in die ihre Bildung die Welt bringt. Der Preis für diese Ordnung ist allerdings die Entgeisterung, und möglicherweise wird die Kluft zwischen Bildung und Welt irgendwann so groß, dass die Schwester endgültig durchdreht. Aber er versteht seine Schwester, sowohl ihre Aufregung als auch die Scham über die Aufregung. Er lenkt sich ab, indem er nach unbestimmten Eindrücken Ausschau hält: Da liegt ein zerschlagenes Glas Gurken auf den Fliesen, der Branntweinessig ist bis unter die Regale gelaufen, Scherben, Gurken, Senfsaat bilden Felsenriffe und Inseln, der Dill hängt wie angeschwemmtes Seegras am Strand.
An der Kasse sind die Wartenden von den Regalen für die Willensschwachen eingekeilt, in der Greifzone Quengelware für die Kinder, in der Sichtzone Schnaps und Tabak. Während August Banane, Joghurt und Acqua Naturale aufs Band legt, nörgelt hinter ihm eine Kundin, die Schlange sei zu lang. Sofort wird sie von einem Mann zurechtgewiesen.
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