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Wach (German Edition)

Wach (German Edition)

Titel: Wach (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albrecht Selge
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der Wand hängt die Urkunde vom Great Place To Work-Award. Die Räume sind klimatisiert, zwanzig Grad sind effizienzoptimal, manche Kollegen tragen bei fünfunddreißig Grad Außentemperatur Strickjacken, einige Frauen haben immer Schnupfen.

    Mittags betritt August den Raum der Ruhe. Leise Wellnessmusik empfängt ihn (früher lief hier keine Musik, aber davon ist man abgekommen, die Ruhenden ertragen die vegetativen Geräusche nicht). Auf einer Liege döst der Vermietungsmanager mit Schlafbrille über den Augen. Auf einer anderen liegt eine Verkäuferin und liest Krieg und Frieden . Auf einem Tischchen liegen von Xerxes verfasste Broschüren aus, Die Kunst des Power-Nappings . August findet keine Ruhe, bleibt nur kurz.
    Vor dem Abstieg ins Untergeschoss will er draußen frische Luft schnappen. Die Gänge der Mall sind jetzt mit Menschen gefüllt. Auf der Galerie, im Panorama-Café Ponte dei Sospiri sitzen Rentnerinnen mit großen Eisbechern, Schulschwänzerinnen fahren die Rolltreppen auf und ab, man bummelt, geht spazieren, guckt in Schaufenster, Frauen schieben Kinderwagen umher; am Abend werden Mütter mit größeren Kindern atemlos hereinhetzen, a woman’s place is in the mall, zwei von drei Kunden sind weiblich. Die Mall am Mittag eines Werktags ist eine Welt in Schieflage, wie die männerlose Welt nach einem großen Krieg, denkt August. Nur am Elektronikgeschäft geht es anders zu, die Tore des Geschäftes sind verriegelt, davor stehen Sicherheitsleute in schwarzen Uniformen und halten das Männergedrängel in Schach. August bleibt stehen und sieht zu, wie das Tor sich im Minutentakt öffnet und die Männer gruppenweise einlässt, zu hohen Stapeln mit Konsolen. Ein Stück weiter, vor einer Luxusboutique im Boulevard Via Condotti, bemerkt er eine bekannte Kaufsüchtige, eine Frau in mittleren Jahren, die anfallsweise Tüten Exklusives kauft.
    Am Ausgang trifft er Xerxes, der, halb versteckt hinter einer Zypresse, das Kreisen der Drehtür beobachtet. Mit einer Kopfbewegung ruft er August zu sich und sagt: «Das Grauenerregende ist ja, dass die Menschen, wenn sie hier hinausgehen, älter sind , als sie beim Hereinkommen waren . Denken Sie das! Wer das feinste Sensorium hätte, könnte den Tag über hier stehen und die Menschen beim zweiten Vorbeigehen fahler und gebeugter sehen als beim ersten Vorbeigehen. Spuken Ihnen auch manchmal diese Mittagspausenapokalypsen durch den Kopf? Wir sind uns ähnlich, Herr Kreutzer … gerade jetzt sehe ich eine Rolltreppe vor mir, vollbesetzt mit Menschen, sie alle stehen (die Menschen brechen ja hier ständig das Gesetz: rechts stehen, links gehen), und da, plötzlich! ruckelt die Rolltreppe, und ruckelt, und zuckt – und steht still , und mit ihr diese trägen Menschen, reglos und zu Säulen erstarrt wie Niobe oder Frau Lot oder Gott weiß welche dämlichen Weiber, die Hände schwer auf den Laufbändern, die nicht mehr laufen, und schließlich beginnen die Menschen zu zerbröckeln, und die Rolltreppe, die nicht mehr rollt, nur mehr eine Diagonale im leeren Raum ist, knirscht und ächzt auf die Tiefe hin … denken Sie das, Herr Kreutzer, und sehen Sie sich hier das Drehen der Tür an, wie das Hamsterrad des Ixion …
    Aber jetzt auf in die Pause! Stellen wir unsere Arbeitskraft wieder her!»
    Als August draußen in der Sonne steht, denkt er sich Xerxes als Pianisten, der in vollkommener Technik Fugen von Bach spielt, auf einem haarsträubend untemperierten Klavier. In Augusts Nähe, am Ufer des Kundenstroms, stehen Raucher, manchmal werfen sie Blicke zum Prediger, der in der Mittagssonne steht, laudate domino, in seinem Gesicht sitzt eine Wespe, doch er redet weiter, alpha id est o, er bemerkt die Wespe nicht, oder er hat keine Angst, sie könnte in seinen Mund geraten. August wird heiß, er will nicht schwitzen und geht wieder hinein in die Frühlingsfrische; wie ein umgedrehter Schlafwandler kommt er sich vor, ist dauermüde, Ziehen in den Gliedern, er ist wie unter einem Schleier.
    Am Eingang des Buchladens steht eine sehr magere Frau und blättert in Dein Kummer verpufft im Olivenhain ; eine Verkäuferin stellt Historienromane ins Schaufenster, Die Marketenderin von Norderstedt, Die Trommlerin von Calanda, Die Gegenpäpstin . August rollt in den Gastro-Walk hinab. Jeden Tag stellt sich das Mittagspausenproblem neu. Manche Angestellte essen mitgebrachte Brote oder Früchte, andere gehen in eins der Panorama-Cafés; die meisten begeben sich grüppchenweise ins

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