Wach (German Edition)
Kinder nicht zu wecken. Am Tag dann, an ihrem Stand, trägt sie Figaro oder Tristan noch in sich, dove sono i bei momenti, sink hernieder, Nacht der Liebe, und sobald ein Crêpe mit Zucker und Zimt bestellt wird oder eine Galette mit Speck oder Fisch, fließt die Musik in vollkommenem Gleichmaß über ihre Hände in Teigschieber und Crêpe; und wenn ein Kunde, wie August, dafür empfänglich ist, beglückt ihn das.
«Wir zwei Schlaflosen!», begrüßt Manja ihn, während sie eine Kelle Teig auf die heiße Platte gießt. «Pit hat sich heute Nacht in Trance gehustet, und als er endlich wieder eingeschlafen war, hab ich kein Auge mehr zugetan. Wenn man dann wachliegt und dem Zeiger zuguckt beim Fortschreiten … Weißt du, dass ich manchmal aufsteh mitten in der Nacht und lass die Uhren alle, alle stehn? Und du, August? Rückertlieder gehört, durch die halbe Stadt gestiefelt?» Statt zu antworten, fragt August, was Manja meine, ob man seinen Kopf wohl einmal ganz leer machen könne? Ihr Kopf, sagt Manja, sei oft leerer, als ihr lieb sei, und früher oder später werde jeder Kopf ganz leer sein, das sei aber nichts Gutes; sie bestreicht den Crêpe mit Konfitüre und fragt August nach seiner Arbeit, und August erzählt vom Treffen mit Gundel G. Avenarius: In ein paar Tagen beginne die Arbeit, in sieben Wochen werde der Trevibrunnen eröffnet, er plane zurzeit das Rahmenprogramm. «Ich werde kommen», sagt Manja. Sie hält sichtlich schon ihre Erzählung bereit, bei ihren Treffen tauschen die beiden immer Geschichten. Während August den Crêpe mit Messer und Gabel in kleine Stücke schneidet, beginnt Manja:
«Einmal habe ich einen Nazi geheilt. Ich musste das tun, als Enkelin von Rotarmisten war es meine Pflicht. Außerdem wohnte er direkt über mir, und es ist unangenehm, ständig Nazischritte über dem Kopf zu hören, Nazis tapsen ja fürchterlich. Dass der da oben hauste, hab ich leider erst festgestellt, als ich in dieses Haus – in dem ich längst nicht mehr lebe – schon eingezogen war. Als ich den Mann im Treppenhaus sah, wusste ich gleich Bescheid: Er trug Militärstiefel, hatte eine geraspelte Rübe und guckte grimmig. Was sollte ich tun? Ich bin in ein Haustiergeschäft gegangen und hab einen Hamster gekauft, der noch so klein war, dass er in eine Streichholzschachtel passte. Am nächsten Morgen bin ich, leise, leise, die Treppe hinauf und hab die Streichholzschachtel mit dem Hamster vor die Nazitür gestellt. Spätabends bin ich, noch heimlicher, noch leiser, wieder raufgegangen: Die Schachtel war weg. Ich hab im Hof die Mülltonnen durchwühlt und in alle Ecken und Winkel gelugt, ob irgendwo ein kleiner Hamster mit gebrochenem Genick läge. Aber nichts. Natürlich musste ich hoffen, dass er den Hamster nicht durchs Klo gespült hatte. Aber schon bald habe ich gewusst, dass er das nicht getan hatte. Denn in den nächsten Wochen habe ich ihn mir bei jedem Zusammentreffen genau angesehen – und sieh da, auf einmal trug er Halbschuhe. Und als noch etwas Zeit vergangen war, fiel mir auf, dass aus seinem Kopf Haare sprossen, ganz kurz und weich, wie bei einem Neugeborenen. Und schließlich, eines Tages, hat er mich im Vorübergehen angelächelt, ganz schüchtern.» «Die Regierung sollte also», sagt August, «allen Nazis Hamster schenken, um ihnen Verantwortung und Sanftmut beizubringen.» «Du lieber August, eine Geschichte ist kein Weltrettungsplan. Ich weiß ja nicht, ob es bei allen Nazis funktionieren würde. Außerdem muss man das Risiko bedenken.» «Für die Hamster?» «Für die Regierung. Wenn mein Hamster ermordet worden wäre, hätte ich es mit meinem Gewissen ausmachen müssen (das wär mir gelungen), aber wenn ein Hamster aus dem Regierungsprogramm zu Tode käme, würde es gewaltigen Ärger geben, die Regierung müsste zurücktreten und Neuwahlen zustimmen, und die Opposition würde einen Hamsterwahlkampf führen.
Und jetzt erzähl deine Geschichte.»
«Ich bin in der Straßenbahn gefahren, da saß wenige Plätze von mir ein ziegenbärtiger Mann, auf dem Schoß ein Baby, das erst ein paar Wochen alt war, noch ganz zerknittert; der Mann hat es festgehalten, seine Hand hat den ganzen Bauch des Babys bedeckt. In einem fort hat der Mann mit dem Baby gesprochen und dabei von sich selbst immer in der dritten Person: Willst du nicht mal den Papa ansehen? Willst du dem Papa noch was erzählen? Was erzählst du dem Papa? Der Papa fährt mit dir ins Grüne. – Mir gegenüber saß ein Mann mit
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