Wach (German Edition)
Diesen Zurechtweiser kennt August, er gehört zur Mall wie der Prediger und die Kaufsüchtige, er spaziert durch die großen Ankerläden und Supermärkte, und immer wenn sich jemand beschwert, weil er warten muss oder etwas ausverkauft ist, hält der Zurechtweiser ihm prompt, mit herabsetzendem Kopfschütteln, entgegen: Nun drehen Sie nicht gleich durch, oder: Ist das etwa ein Weltuntergang? Und immer passiert dasselbe, die Stimmung wendet sich sofort gegen den Nörgler. August hat Mitleid mit der bloßgestellten Kundin, die Zurechtweisung beraubt sie der Chance, sich nach einer kurzen Aufwallung von Ärger wieder zu beruhigen; die Zurechtweisung legt sie auf den Ärger fest, der sonst vielleicht gleich verflogen wäre. Tatsächlich kann die Kundin jetzt nicht mehr zurück, sie schimpft weiter, aber verzagt und ohne Resonanz; der Zurechtweiser hat wieder einen Triumph errungen. Die Kassiererin, Ayse Bulan, hält sich aus allem raus. Als sie Augusts Einkäufe über den Piepser zieht, bewundert er die feinen Miniaturmalereien auf ihren Fingernägeln.
Die Banane ist von makelloser Beschaffenheit, nicht zu hart und nicht zu weich, und nicht grün und nicht braun, sondern von mustergültigem Gelb; August isst sie im Gehen. Den Joghurt löffelt er auf dem Sockel eines Obelisken sitzend. Auf dem Weg zum Crêpe-Stand trinkt er das stille Wasser und versucht, gegen den Viervierteltakt der Beschallung anzugehen. Seine Schritte legen einen Dreivierteltakt darüber, Eins und Eins treffen sich, dann wird die Vier der Musik zur Eins seines Gehens, die Drei zur Eins, die Zwei zur Eins, und das nächste Zusammentreffen von Eins und Eins kann August nichts mehr anhaben, er ist nur ein synkopischer Zufall, und schon beginnt der Rhythmus von neuem, als Ostinato der Hintergrundmusik.
Als August fast am Stand ist, winkt ihm die Crêpe-Bäckerin entgegen, die Augen zusammengekniffen, um ihn scharf zu stellen. Ihr kleiner Stand ist beschirmt von einer gestreiften Markise, staffiert mit bretonischem Fischernetz und Fototapeten von blühenden Lavendelfeldern und dem nächtlichen Saint-Germain. Heißen Sie wirklich Manon Lescaut?, hat August die Verkäuferin gefragt, als er zum ersten Mal einen Crêpe dort gegessen und das Namensschild an ihrem Kleid gesehen hat. Ja, hat sie geantwortet. Mittlerweile weiß August, dass sie Manja heißt und aus Russland stammt; alle Verkäuferinnen der Kette bekommen französische Namen, und Manja hat, als sie eingestellt wurde, den Regionalleiter gefragt, ob er mit Manon Lescaut einverstanden wäre, worauf dieser mit den Achseln zuckte und sagte, warum nicht. Manjas Bewegungen haben es August angetan: Behutsam lässt sie den Schieber über die heiße Platte kreisen, sodass der Teig in weiche Wellchen schwappt und endlich in einen einzigen wunderbaren Ring einfließt. Der Crêpe selbst kann die Verheißung seines Entstehens nie erfüllen; dafür serviert Manja Crêpe für Crêpe Häppchen aus ihrer Vergangenheit, sodass August sich ein Lebensgerüst hat zusammenfügen können: Ihr CV sei ein pêle-mêle, hat sie erzählt, sie habe historisch danebenstudiert, sowjetische Ingenieurswissenschaften, jetzt könne sie lauter Geräte bauen, warten, reparieren, die es nicht mehr gibt. In Deutschland ist sie zweimal Mutter geworden und hat ihr Glück mit Handtaschen probiert, die sie aus Plastiktüten und leeren Verpackungen zusammennähte; yuu sui en hieß ihre Marke, Garten des zusammenfließenden Wassers, denn Wasser hat keine Form, es nimmt die Gestalt jeglichen Gefäßes an, und so ist sie mit ihrem Material umgegangen; so ist aber auch sie das Material ihres eigenen Lebens, die Väter ihrer Kinder haben sich dünngemacht, der Handtaschenverkauf war ein Fiasko, jetzt sitzt sie abends zu Hause und denkt, Harmonie ist es, in Gefäße zu fließen, und hört, wenn die Kinder endlich schlafen, nächtelang Musik, vor allem solche, die August befremdlich findet, nämlich Opern, Carmen, Walküre, Tosca, mit Kopfhörer und geschlossenen Augen. Wenn ich Musik höre, sagt sie, die Traviata zum Beispiel, die unglaublich schöne Aufnahme von Carlos Kleiber, da spukt es am Anfang, während der Ouvertüre, da spuckt es noch in meinen Kopf rein: Schreib auf: Milch Würstchen Tomaten! – aber ein paar Takte später ist das alles verstummt. Und manchmal, denn das hat sie gelernt, als sie ein sowjetisches Kind war, spielt sie Geige, in der Küche zwischen Kühlschrank und Spüle, bei geschlossener Tür und mit Dämpfer, um die
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