Wach (German Edition)
verschwindet hinter einem Vorhang, August sieht wie durch Gaze, dahinter ist alles scharf, klar konturiert, und doch nur zu erahnen; da setzt er die Brille ab und steckt sie in die nasse Hosentasche, kein Brillenrand schneidet mehr ins Sichtfeld, Straßennamen kann er nicht mehr lesen, alles unscharf, doch der Schleier ist fort, und obwohl die Dinge verschwommen sind, ist ihm, als zeigten sie sich ihm erst jetzt.
In triefenden Kleidern läuft August durch seine Wohnung. Der Wasserkocher blubbert, in der leeren Tasse hängt ein Beutel Assamtee. August geht ins Wohnzimmer, öffnet den Klavierdeckel und schlägt drei Töne an, er hat ewig nicht gespielt, fängt ein Nocturne an, mit klammen Fingern, vergreift sich, es ist ein Jammer, und die Tasten sind nass, und jetzt ist keine Zeit, zu der man Klavier spielen darf (auch kein Nocturne?). Er zieht sich trockene Sachen an und überlegt, ob er zwei, drei Baldrianpillen nehmen soll; wieder so ein Unsinn, erst Assamtee trinken, dann Baldrian schlucken. Er schaltet den Fernseher ein: Wiederholung einer Diskussionssendung, ein Politiker plädiert für mehr Regulierung, ein anderer für weniger Regulierung, beiden hört August mit zustimmendem Kopfnicken zu. Ein Lokalsender berichtet vom Kongress der Wohnungsunternehmen, ein Vertreter warnt vor einer gigantischen Leerstandswelle, einem Leerstands-Tsunami: Um die Städte zu retten, müssen Tausende Häuser rückgebaut werden. August schaltet ab und setzt den Kopfhörer auf, denkt daran, die Winterreise zu hören, und legt die Hammerklaviersonate ein. Den ersten Satz nimmt er mit halbem Ohr wahr, im Scherzo döst er momentweise, im Adagio erinnert er sich, wie er als Teenager mit seinem Walkman alle Beethovensonaten durchgehört hat: Sommerurlaub in den Bergen, seine Schwester war allein verreist, mit Interrail in die Antike, seine Eltern machten Bekanntenbesuche, er blieb Tag für Tag allein in der Ferienwohnung, und während er sich vorarbeitete von der Pathétique zur Waldstein, von der Appassionata zu den späten Sonaten, schwirrten ständig Fliegen um ihn, setzten sich in seine Haare und auf seine nackten Füße, schrecklich lästig, und so schlug er, wenn eine Fliege in Reichweite war, zu, ohne die Musik zu unterbrechen; sodass, wenn er eine Sonate fertig gehört hatte und den Kopfhörer absetzte, um ihn ein Ring aus toten Fliegen lag. Als er im Finale ankommt, hat er die Bodenschwere noch immer nicht verloren, sondern fühlt sich massig, versinkt bleiern im Sofa, da macht er die Musik aus, nur wenige Takte vor Schluss. Wie ein nasser Sack hängend, erinnert er sich an seine alte Studentenwohnung und denkt, wenn er in der dort entstehenden luftigen Maisonette wohnte, würde ihn die Sehnsucht nach dem alten feuchten Loch erdrücken. Vielleicht kommt ja die merkwürdige, niederpressende Schwerkraftempfindung aus der unsichtbaren Geschichte seiner Zimmer? Daher, dass da, wo er den Fuß hinsetzt, immer eine unbekannte Vergangenheit ist? Sein Appartement, schick mit Klötzchenparkett, Einbauküche, Fußbodenheizung im Bad: Wie mag das früher gewesen sein? Er vermutet, dass die Wohnungen bei der Sanierung neu zugeschnitten wurden, aber nicht einmal das weiß er sicher. Wer mag hier früher gewohnt haben? Eine vielköpfige Arbeiterfamilie, Väter mit welchen Berufen, was für Mütter, Kinder in welchem Alter (was mag aus ihnen geworden sein), vertrugen sie sich, war es ein sorgenvolles Leben, waren sie glücklich, oft, manchmal, in seltenen Momenten? Der Gedanke an solche gewesenen Momente verzaubert gelegentlich die Zimmer. Und wie mag das Haus vor dem Krieg, während des Kriegs, nach dem Krieg ausgesehen haben? Einmal ist August durch den Keller gestrichen und hat Ausschau nach Spuren gehalten, nach Schildern aus Luftschutzkellern und was er sich so vorstellte. Aber nichts, nur ein Gang, aufgeräumte Abstellkammern, der verschlossene Heizungsraum.
Er macht wieder den Fernseher an, wo sich zwei dicke Frauen ankeifen, angestachelt von einer schönen Moderatorin, dazwischen steht verloren ein töricht wirkender Mann, um den sich der Streit zu drehen scheint. In der Ecke des Bildschirms steht Aufzeichnung. Bitte nicht mehr anrufen ! August stellt den Ton ab, jetzt zanken die Gestalten stumm. Er schaut zum Bücherregal hinüber, da stehen mit ihrem verdunkelten Rücken die Bekenntnisse, die er aus den Tristen Tropen geholt hat. Er weiß den Popel im Buch sicher geborgen. Was, überlegt er, wenn die ganze Schwerkraftsache gar
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