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Wach (German Edition)

Wach (German Edition)

Titel: Wach (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albrecht Selge
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Dinge: rechts Messer, links Gabel. Er spürt in der Rechten noch die Bewegung, mit der er das Messer eben aufgenommen hat, er kann ja die Linie der Bewegung im Raum sehen, sie leuchtet, nur wenn er die Augen zusammenkneift, um die Linie scharf zu stellen, löst sie sich auf. Wie ist das möglich, dass sich irgendetwas verändert? Die Bockwurststücke liegen ihm schwer im Magen (er isst doch kein Fleisch, aber er hat solche Lust auf Bockwurst gehabt), die Kerze auf dem Tisch züngelt, als strichen Gespenster durch den Raum. Mittags hat er sich in den Raum der Ruhe gelegt und ist unter Wellnessklängen weggedämmert, da hat er irgendwas geträumt, und dann – wacht er auf, steht in einem Bürohochhaus und guckt zum Fenster hinaus, an der Fassade schwingt ein Außenfahrstuhl hin und her, wie eine Schaukel im Sturm, dann brennt das Gebäude, Qualm im Treppenhaus, man muss aus dem Fenster, unten auf der Straße stehen schon Feuerwehrleute, aber sie haben keine Sprungtücher, daher bitten sie die vorbeigehenden Passanten, ihre Jacken und Mäntel herzugeben. Sieh an, die Passanten kennt er ja, das sind die Kollegen aus dem Center-Management. Aber was fällt ihnen ein, die Jacken nicht herzugeben? Sie gehen vorbei, als stünde das Hochhaus nicht in Flammen, es ist ja schon furchtbar warm, also zieht August selbst sein Jackett aus und wirft es hinunter, hat noch Angst, beim Werfen aus dem Fenster zu plumpsen, aber das passiert nicht, vier Feuerwehrleute spannen das Jackett auf, und August fasst sich ein Herz und springt, aber kaum im Jackett gelandet, hüpft er wie ein Flummi wieder hoch, bis zu dem Fenster, aus dem er eben gesprungen ist, fällt wieder runter, schnellt wieder hoch, wieder runter, wieder hoch, die Höhe verringert sich überhaupt nicht, er hopst immer wieder auf die Höhe, aus der er vor Stunden gesprungen ist
    der Stammgast quetscht sich an Augusts Tisch vorbei, den Hut tief ins Gesicht gezogen, Wotan mit der Dreibeinigkeit im Schlepptau. Der Zigarettenrauch macht die Bockwurst nicht besser, aber der saure Chianti spült Leben durch Augusts Adern. Die Musik geht aus, Mitternacht, der Stille Donnerstag hat begonnen. Irgendwo redet jemand sehr laut, und jemand antwortet sehr laut. August schaut durch den Raum, um die Verursacher des sehr lauten Redens zu finden. Es dauert eine Weile, bis er sie entdeckt, sie sitzen am anderen Ende des Raums, direkt vor der Frontscheibe zur Straße, Amerikaner, zwei Männer und zwei Frauen. Im ganzen Raum hört man ja nur diese vier reden, so wirkt es, als bewegten die anderen Gäste ihre Münder stumm. Über den Amerikanern hängt ein Plakat am Fenster, eine Laterne strahlt es von draußen an:

    Auf der Straße parkt ein leerer Reisebus, bedruckt mit der Werbung einer arabischen Fluggesellschaft, in einem auffälligen Lavendelton. Da kommt ein Moped angefahren und bleibt neben dem Bus stehen, im Laternenlicht hat es die gleiche Lavendelfarbe wie der Bus, sodass es aussieht, als wäre das Moped mit einer hauchdünnen Linie auf den Bus gezeichnet oder soeben aus dem Bus herausgeschnitten worden.
    August macht einen Schlenker über den Uferweg, um Haare und Kleider zu lüften und mit der Bockwurst im Magen und dem sauren Chianti im Kopf fertig zu werden. Im Gras feiert keiner mehr, der laternenlose Weg wirkt dunkler als in den heißen Tagen, durchs ewige Geniesel ist alles vollgesogen mit Feuchtigkeit. Aber in der Ordnung des Uferwegs, wie August sie erwartet, zeigt sich eine Lücke: Der Obdachlose am Pfeiler der Bahntrasse ist verschwunden, Tüten, Rucksack, Einkaufswagen sind fort, die Bank mit Flussblick leer. August fröstelt, er kommt sich wie der Letzte vor, der jetzt noch draußen ist. Wo mag der Mann hin sein? In eine Obdachlosenunterkunft gezogen, wegen des Regens, schon im September? Oder hat er schlappgemacht, hat es ihn erwischt? Wie könnte man das erfahren? August wechselt die Richtung, klappert Bänke, Brücken, Unterführungen ab, wirft Blicke in geschützte Ecken und trockene Winkel, aber der Obdachlose bleibt unauffindbar. Allmählich kommt August in belebtere Straßen, doch kein Vergleich mit dem Trubel in den heißen Monaten, Touristen und Passanten haben es eilig, vor den Cafés stehen Heizpilze, die großen Sonnenschirme bieten Schutz vor der Nässe, Wolldecken liegen auf den Stühlen bereit, doch nur ein paar Raucher sitzen noch draußen.
    Er betritt die frischgeteerte Hauptallee des wiedereröffneten Parks. Bald biegt er auf einen matschigen Seitenweg

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