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Wach (German Edition)

Wach (German Edition)

Titel: Wach (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albrecht Selge
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einem Haus auf eine gefrorene Forelle getreten, die jemand eben verloren oder weggeworfen haben muss, und jetzt findet er im Hinterhof einen verfallenen Jugendstilbrunnen, eine Grotte voller Nymphen und Faune, da stellt er sich vor, die Forelle ist übermütig aus dem Brunnenwasser herausgesprungen und gleich, im Sommerregen, tiefgefroren.

    Er schielt in Parterrebüros und Handwerksbetriebe, sieht in einer Änderungsschneiderei einen vornehm wirkenden älteren Herrn an einer Nähmaschine, in gebückter Konzentration unter einem Atatürkporträt, betritt eine Schusterei und kauft schwarze Schnürsenkel, schaut sich dabei zwischen Schuhen und Werkzeugen um, betrachtet Risse in der Wand, ein Marienbild über dem Arbeitstisch des Schusters. Er geht durch Flure von Volkshochschulen. In einer Bibliothek sieht er, durch ein Regal, einen Rentner neben einem Jungen sitzen, über Büchern und Heften, bei der Lösung einer Mathematikaufgabe. Der Rentner fragt den Jungen nach seinen Zukunftsträumen, der Junge kommt ins Erzählen, der Mann hört zu und lenkt schließlich behutsam die Aufmerksamkeit des Jungen wieder zur Aufgabe hin, und der Junge sagt ernsthaft: «Ja.» Da kommt sich August wie ein Zeitverschwender vor. Trotzdem setzt er sich halbe oder ganze Stunden, die er der Büroarbeit abgezwackt hat, in Wartezimmer von Behörden, um sich die Leute anzusehen, oder betritt ein Arbeitsamt, das jetzt JobCenter heißt, einen strahlend neuen Klinkerbau, riesengroß, eine Art Mall, in der Kunden mit leeren Stunden zahlen; wenn sie keine BG-Marke vorweisen können, werden sie von Wachleuten in eine Nebenhalle gewiesen, wo sie sich anstellen müssen, während August, ohne BG-Marke und ohne Not, freie Stunden loszuwerden, einfach wieder hinausspazieren kann, in einem Anflug von Scham, als hätte dort, ausgerechnet dort, irgendwer auf ihn aufmerksam werden können. In Ämtern und Behörden fällt niemand auf, verdächtig ist August nur auf Höfen, Treppen, Kelleraufgängen: Wo ein Trinker herumlungern, ein Sammler um Müllcontainer und Gebüsche streichen darf, weist Augusts Aufzug ihn nicht als Verlorenen aus, der das Recht hätte, rumzugehen ohne Ziel. Oder sein Alter macht ihn zur bedenklichen Figur, wie in einem Schulgebäude, das August eines Abends betritt: Die Wegweiser zur Theateraufführung beachtet er nicht, sondern läuft auf Linoleum durch dunkle Gänge, schaut in leere Klassenzimmer, sieht sich die Tafelbilder des vergangenen Tages an, schaut in Vitrinen mit Bastelarbeiten, liest Plakate über Vulkanismus und die Entstehung der Arten – bis er dem Hausmeister über den Weg läuft, der ihm misstrauische Fragen stellt, irgendwo anruft und schließlich zum Ausgang bringt, mit einem argwöhnischen Blick, dessen Berechtigung August einsieht.

    Leider kann man nicht durch fremde Wohnungen spazieren. August würde gern einige Tage lang nichts anderes tun, durch eine nach der anderen. Wie ließe sich das anstellen? Ein paarmal geht er zu Besichtigungsterminen, die er in der Zeitung findet, aber das ist nichts. Stattdessen nimmt er verstohlen Einblicke ins Private, späht durch Scheiben in Erdgeschoss- und Hochparterrezimmer. Manchmal stehen Puppen am Fenster, gucken nach draußen, wie eingesperrte Kinder, vielleicht sollen sie, durch gespenstischen Gegenblick, neugierige Glotzer bannen. Auch Balkone sind solche Einfallstore ins Heimische, es gibt Kunstgärtchen und Bonsaiplantagen, Urwälder und Wucherungen; Abstellbalkone unter Taubennetzen, vollgepackt mit Flaschen, Kisten, ausrangierten Möbeln; auf einem Balkon stehen ein Strandkorb und ein Schlitten nebeneinander. Einmal gewährt ein Parterrebalkon August eine, wie ihm scheint, intime Einsicht: Eine Frau gießt die Blumen in den Kästen, doch im Ablauf dieser Tätigkeit zeigt sich ein Bruch, die Frau gießt die Blumen nicht in einer Linie durch, sondern erst von rechts bis kurz vor die Mitte, dann von links bis kurz vor die Mitte, und die Mitte zuletzt; die routinierten, wie tausendmal geübten Bewegungen sprechen gegen einen Zufall, und so ist August, als habe er soeben eine Art von Widerstand gesehen, Widerstand konserviert in ewigem Frost.

    Unvorstellbar, dass das gehen soll: etwas zu tun. Er starrt auf Chianti und Bockwurst, im flackernden Kerzenlicht, hört weit entfernt einen krachenden Punksong, ist wie gelähmt, plötzlich bemerkt er, er hält ja Besteck in den Händen, und das ist seltsam, gerade eben hat er noch die Hände frei gehabt, und jetzt sind da zwei

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