Wach (German Edition)
vom Fernsehsessel auf und sagt grußlos: «Die Regierung ist scheiße.» Die Schwester, schon am Vormittag aus der Universitätsstadt gekommen, umarmt August und flüstert ihm, statt einer Begrüßung, ins Ohr: «Ich habe die Heizungen schon runtergedreht.» Die Mutter sagt nichts, sie steht auf einer Leiter und tauscht eine Glühbirne aus. (Solang August denken kann, hat immer seine Mutter solche Arbeiten erledigt, nie der Vater, der hat, wenn er abends aus der Praxis kam, immer alle Tätigkeit eingestellt und Nachrichten gesehen oder historische Sachbücher gelesen.) August tritt zur Mutter und hält die Leiter fest. Später, als der Gong im Fernsehen eine weitere Nachrichtensendung ankündigt, begleitet er seine Schwester zum Rauchen auf den Balkon. Kaum ist die Tür zu, sagt sie: «Nachrichten sind das Nichts, die Wiederkehr des Immergleichen. Nichts ist so zermürbend wie die ewig sich erneuernden Parteikrisen.» August schwant ein Lamento. Er guckt durch die Balkontür nach drinnen, auf Geschirrstapel und kalte Platten unter Frischhaltefolie, und da denkt er, Fernsehnachrichten sind ein Abbild seines Lebens: tausend zusammenhanglose Informationen, die sich abschotten gegen die Welt; nein, vielleicht ist es genau andersherum, gerade die gezielte Zusammenhanglosigkeit, rumgehen, gibt ihm momentweise das Gefühl, ein ganzer Mensch zu sein. Er antwortet: «Schlimm sind auch die Reformdebatten», und fürchtet schon, die Schwester angestachelt zu haben zu endlosem Gejammer über die Universitätsreform. Aber sie nimmt die Vorlage nicht auf, sondern sagt: «Weißt du was, Junge? Ich habe neulich einen Laden gesehen, der hieß Agape … verkauft Designerbäder … Marmorbadewannen und Brausen mit Perlen und so was … Agape », und sie scheint aufschreien zu wollen, und tut es nicht: «Es nützt ja nichts, ich mache mir nur das Leben schwer, mir und meinen Mitmenschen, wenn ich so was beachte, ich sollte das alles ignorieren … das alles … Aber, es fällt mir so schwer.» August versucht, seinen Schrecken zu verbergen, die Schwester wirkt angegriffener denn je, sie raucht hektisch, schaut beim Sprechen um sich, unruhig, als sähe sie wilde Tiere. Er erinnert sich, wie er als Kind zu ihr aufgesehen hat, nie hatte er Zweifel an ihr. Plötzlich denkt er, sie müsste mit Xerxes verkuppelt werden. Bei dieser Vorstellung lächelt er. Die Schwester sagt: « Du bist immer sorglos und unbeschwert, Junge.» In ihrem Ton ist kein Vorwurf. August fragt sich, ob Xerxes überhaupt verheiratet oder liiert ist, seltsam, dass er das nicht weiß. «Es geht dir wohl nicht gut?», fragt er. Sie guckt ihn an: «Alle Eltern tun, was unsere auch getan haben: Sie vermitteln ihren Kindern die Illusion, nicht überflüssig zu sein. Das ist eine Hypothek fürs ganze Leben», sagt sie und geht wieder hinein.
Mit trockener Kehle im Bett, hört er draußen den Regen; obwohl das Fenster offen steht, ist die Luft entwässert durchs ständige Heizen, durch all die staubigen Dinge, mit denen die Eltern sein früheres Kinderzimmer zugerümpelt haben. Die Gäste haben über Großtanten geredet, über Abwesende und längst Gestorbene, von vielen kannte August, wenn überhaupt, nur die Namen; Erinnerungen und Anekdoten wurden ausgetauscht, und August dachte, in kleine Geschichten verwandelt, schwingen diese vergangenen Leben noch eine Weile nach, bis niemand mehr weiß, wer das war, und die Geschichten unerzählbar werden. In der Zukunft werden er und seine Schwester und die Kusinen über Eltern, Tanten, Onkel reden, und es werden Jüngere dabeisitzen, die nicht genau wissen, über wen da gesprochen wird. Da fällt ihm das Kind ein, das in diesem Zimmer gelebt hat. Es entsetzt ihn, dass dieses Kind sterben wird; er hat Mitleid, nicht mit sich selbst, sondern mit diesem Kind, das es nicht mehr gibt. Er steht auf und, statt in Anthroposophie der Führungskraft zu lesen, stellt sich ans Fenster. Regen in der Nacht hat er immer gemocht. Die Fassade des gegenüberliegenden Hauses wirkt fremd auf ihn, ist sie schon immer nachts angestrahlt worden, von seltsam nutzlosen Scheinwerfern? Er hat das Haus nie genau angeguckt; hätte man ihm den Erker mit seinen täppischen Verzierungen, aus dem Gesamtbild herausgerissen, gezeigt und ihn gefragt, wo er den schon gesehen habe, er hätte keine Ahnung gehabt. Dabei war das achtzehn Jahre lang seine Aussicht.
Er verlässt sein Zimmer. Wie früher sind alle Türen abgeschlossen, wegen der Katze, die an die
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