Wach (German Edition)
sechzigtausend, in den Peaks neunzig-, aber an diesem Donnerstag sind alle ausgeblieben, von morgens bis abends ist nicht eine Menschenseele gekommen. Dabei hatte der Tag ganz normal begonnen, wie jeder Werktag; nur dass vor den Eingängen noch nicht die Handvoll Leute standen, die normalerweise schon warten, wenn geöffnet wird. Als es nach einer halben Stunde immer noch leer war, sind die Verkäufer auf die Gänge getreten und haben sich angeguckt. Dann kamen auch die Angestellten aus dem Management runter. Alle sind rumgestanden, einer ratloser als der andere. Währenddessen haben Xerxes und ich Erkundigungen eingeholt, ob es vielleicht irgendwo eine Großveranstaltung gab, von der niemand wusste, oder Verkehrsstaus; Terroranschläge, Brandkatastrophen, Streiks. Aber nichts. Die Angestellten sind den ganzen Tag auf und ab gegangen, haben in den leeren Cafés und Restaurants gesessen und in den leeren Geschäften eingekauft. Die Stunden haben sich qualvoll hingezogen, es war ein unendlich langer Tag.» «Das ist ja schrecklich. Und dann?» «Nichts weiter. Am nächsten Tag waren die Kunden wieder da. Sie sind einfach einen Tag ausgeblieben und danach wieder gekommen, wie gewohnt. Niemand kennt die Erklärung. Xerxes hat eine Weile versucht, die Sache zu ergründen, hat Rat bei einem Wirtschaftsinstitut und bei Ökonomen eingeholt, aber die konnten alle nichts anderes sagen, als dass es auch für ein florierendes Einkaufszentrum in einem von soundsovielen, ins Unendliche gehenden Fällen einen solchen rabenschwarzen Tag geben könne. Es ist wie ein Lottogewinn, unwahrscheinlich, aber möglich.» «Und könnte wieder passieren.» «Aber wahrscheinlich ist es nicht. Alle haben das Geschehen allmählich verdrängt. Der Begriff Pestilenziöser Donnerstag hat sich eingebürgert, und schon bald hat niemand mehr genau gewusst, was er bezeichnet. Frag doch mal rum, frag die Kellner im Divertimento und die Kassiererinnen in den Supermärkten und die Verkäuferinnen in den Boutiquen: Was hat es mit dem Pestilenziösen Donnerstag auf sich? – Ich wette, alle werden sagen, es war schrecklich, aber was es war, weiß ich nicht mehr. Nur Xerxes! Der hat am Abend zwar zu mir gesagt: Man badet nicht zweimal im selben Fluss. Aber er ist immer noch ganz bleich gewesen. Ich glaube, er hat bis heute keine Sekunde dieses Tages vergessen.» «Und du auch nicht», sagt Manja; August klappert leise mit seinem Messer auf dem leeren Teller, und sie fügt hinzu: «Du hast mir eben etwas Seltsames erzählt. Dabei ist mir eingefallen, dass wir uns heute noch unsere Geschichten schulden. Oder genauer gesagt, jetzt bin nur noch ich dir eine schuldig.
Hör zu!
Ich habe mal jemanden getroffen, der schon tot gewesen war. Den hättest du sehen sollen! Eine Schlaftablette sondergleichen war das, träge, die wandelnde Apathie. Das war der Regionalleiter, der mich eingestellt hat. Vielleicht hat er deshalb den Namen Manon Lescaut akzeptiert, ohne mit der Wimper zu zucken. Denn mit der Wimper zu zucken, was wäre das für eine Anstrengung gewesen! Eine grundlose! Wie er da vor mir gesessen ist, in seinen Papieren blätternd, dachte ich, gleich schläft er mir ein, mitten im Sprechen. Und als zwischendurch das Telefon geklingelt hat, ist er zusammengefahren, als würde man von ihm verlangen, einen Ozean mit dem Teelöffel auszuschöpfen … Ein paar Monate später habe ich ihn wiedergetroffen, bei einem Coaching zum Thema Öko-Crêpes. Er war kräftig angetütert, hatte schon einige Suzettes gegessen, wahrscheinlich sich den Bio-Cointreau auch pur reingekippt. In der Pause hat er sich mir an den Hals geworfen, er ist ganz nah an mich rangerückt und hat mir ins Ohr geflüstert: Wissen Sie was? Ich war schon einmal tot – war klinisch tot, und bin zurückgekommen. Sein Atem hat furchtbar nach Orangenlikör gestunken, und er konnte seine Finger nicht bei sich behalten. Ich habe ihn abgewehrt, so gut es ging, aber irgendwie hat es mich auch gefreut, ihn so aktiv zu erleben, deshalb bin ich bei ihm sitzen geblieben. Und dann hat er mir erzählt, wie das war, als er tot war.» August hält die Grünteetasse in der Hand. Im Hintergrund läuft die Wut über den verlorenen Groschen. Welche Erzählung wird jetzt kommen, Todesankündigung, dunkler Tunnel, Verlassen des Leibes, Lichtwesen, Rückschau, Schranke? Aber auf einmal guckt Manja nicht mehr August an, sondern starrt ins Leere und sagt:
«Was rede ich da? Es ist alles unwahr, was ich dir erzählt
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