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Wach (German Edition)

Wach (German Edition)

Titel: Wach (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albrecht Selge
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schaut nach links und sieht, wie Manja sich die Nase putzt, und als die Arie in der Coda ankommt, hat Manja die Brille abgenommen und weint, tatsächlich laufen ihr Tränen übers Gesicht, tatsächlich weint sie

    und lacht, als sie das Om betreten: Gerade hat sie zu Hause angerufen, aber nicht Serap ist ans Telefon gegangen, sondern Pit, und erst nachdem er umständlich-unbegreiflich auf Manja eingeredet hat, ist Serap rangekommen und hat erklärt, Salome und Fatma schliefen, aber Pit bleibe partout nicht im Bett liegen, es gehe drunter und drüber: Jetzt brutzeln wir Mitternachtsfischstäbchen, du kannst beruhigt ausbleiben. Während sie aufs nepalesische Essen warten, deutet Manja mit dem Finger nach oben, als wollte sie auf das Klavierkonzert zeigen, das gerade läuft: «Es ist so schummrig hier, sie sollten mehr Licht machen, etwas mehr Licht, Mozart gehört nicht ins Halbdunkel.» Sie holt aus ihrer Handtasche eine weinrote Tablette und sagt: «Oktober, die Johanniskrautsaison hat begonnen.» August überlegt, ob er eine Baldriankapsel nehmen soll (eine erste im Verlauf des Abends erhöht später die Wirkung der zweiten), und staunt, dass Manja Mozart ebenso mag wie Puccini, er denkt, bei ihr ist alles möglich, sie ist ja auch gleichzeitig die fröhlichste und die traurigste Frau, die er je kennengelernt hat. Da kommt ein junger Mann ins Om, mit einer Kapuze, unter der ein struppiger Bart und ein feuriger Blick ungesund hervorleuchten, er erinnert August an Rasputin. Er geht zwischen den Tischen umher, unbefangen, doch so, als suche er jemanden, bis er plötzlich bei einer größeren Gesellschaft stehen bleibt, ein Glas Rotwein greift und es in einem Zug leert. Der nepalesische Kellner hat ihn schon bemerkt, er nimmt ihn an der Schulter und bringt ihn mit sanftem Druck zur Tür, der Mann wehrt sich nicht, lässt sich gehorsam führen, geht mit federndem Schritt hinaus und verschwindet im dunklen Regen. August fesselt das Mönchische dieser Erscheinung, seine Hingabe (an den Alkohol), und zugleich wirkt der Mann ja wie ein Tier. Er ist, denkt August, eine Mischung aus Mönch und Tier. Manja sagt: «Er sah aus wie Rasputin. Fürchterlich. Kennst du Rasputin?» Der Kellner bringt der Gesellschaft unter Entschuldigungen neuen Wein.
    Beim Essen redet Manja über die Reise nach Russland, sie werden sechs Wochen (Salomes Klassenlehrerin drückt beide Augen zu) im Dorf von Manjas Eltern verbringen. Vor einiger Zeit sei ihr letzter Großvater gestorben; Salome habe ihn immerhin noch kennengelernt, als er sie hier besuchte, aber Pit, das sei schade, werde keinen Urgroßvater und keine Urgroßmutter mehr kennen, und natürlich erst recht keine Ururgroßeltern, obwohl es doch sechzehn gegeben habe, und so fort: «Man ist ja grenzenlos in die Vergangenheit verzweigt, wundert dich das nicht? Dass man all diese Menschen, von denen man herkommt, nie kennen wird, das ist doch unvorstellbar; fast meine ich, es verstößt gegen den Menschenverstand, so etwas zu glauben. Man kommt, wenn man geboren wird, in eine Welt, die schon von Gespenstern bevölkert ist, von Gespenstern, die zu uns gehören; und das ist doch andererseits nicht schaurig, sondern schön.» August stochert mit der Gabel in den gelben Linsen und denkt, das Leben besteht im Grunde aus nichts als Essen, kaum hat man etwas gegessen, steht schon das nächste Essen da. Dieses Gefühl hat er öfter; manchmal, wenn er im Bett liegt, das zu späte Abendessen schwer im Bauch, denkt er, jetzt also gleich wieder aufstehen, wieder essen. Obwohl er, bis auf Fisch, vegetarisch isst, kommt ihm sein Leben wie eine Kette dicker Würste vor, und ihm ist, als seien im Lauf der Jahre die Abstände zwischen den Essen immer kürzer geworden und jetzt völlig im Verschwinden. Er betrachtet Manja, wie sie isst: als wäre das etwas ganz Normales. So kommt sie ihm wieder sehr fremd vor; aber ebendiese Fremdheit rührt ihn, und ihn rührt auch die Tatsache, dass sie einfach so dasitzt und einfach so isst, da möchte er sie vor Mitleid umarmen.
    «Verrate mir mal eins», sagt Manja und legt ihr Besteck zur Seite, «was hat es eigentlich mit diesem sagenumwobenen Tag auf sich, dem Pestilenziösen Donnerstag?» «Der», sagt August, «war, bevor du am Crêpe-Stand angefangen hast. Was genau los war, wissen aber auch die nicht, die dabei gewesen sind. Es war ein Donnerstag, ein paar Monate nach der Eröffnung: Da ist kein einziger Kunde ins Center gekommen. Sonst haben wir täglich

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