Wach nicht auf!: Roman (German Edition)
stärker machen. Und wen versuchte sie da eigentlich zu verarschen? Wenn sie ihrem Vater androhte, eine eigene Werbeagentur aufzumachen, würde der sie nur auslachen.
Sie war noch immer zu nichts zu gebrauchen.
Sam stapfte ins Ferienhaus. »Ich gehe wieder ins Schlafzimmer«, rief sie auf dem Weg zum Flur über die Schulter zurück.
»In Ordnung, ich hol Sie dann, wenn ich die Küche aufgeräumt habe.« Anne warf ihre Handtasche auf den Tisch und ging zur Küchentheke. »Wir machen heute einen Spaziergang.«
Der Stress, ausgelöst durch das Geflüster der Frauen im Beauty-Salon und die Fragen, die sie nicht hatte beantworten wollen, war zu viel für Sam. Sie blieb unvermittelt stehen und drehte sich um. Es war ihr egal, was Anne wollte. Sie wollte ihre Ruhe haben, selbst wenn das bedeutete, dass sie sich im Schlafzimmer einschließen musste. Mit zusammengezogenen Augen betrachtete sie Annes Bizeps. Wahrscheinlich war das doch keine so gute Idee. Anne wirkte absolut fähig, eine Tür aufzubrechen.
»Ich muss mich ausruhen«, schrie Sam und stampfte mit dem gesunden Bein auf. »Sie haben mich jetzt schon den ganzen Tag durch die Gegend geschleift. Können Sie mich nicht mal fünf Minuten in Ruhe lassen?«
»Kein Problem«, gab Anne freundlich zurück. »Ungefähr so lange werde ich für den Abwasch brauchen … und dann machen wir den Spaziergang.«
Sam verschränkte die Arme vor der Brust und starrte Anne wütend an. »Ich möchte aber nicht gehen.«
»O doch, sicher mögen Sie. Es ist ein schöner Nachmittag, und ein kurzer Spaziergang den Weg entlang wird Ihr Bein kräftigen. Wenn wir dann zurückkommen, mache ich Ihnen noch eine Tiefenmassage.«
Bei ihrem selbstsicheren Tonfall biss Sam die Zähne zusammen und suchte krampfhaft nach einer Antwort. »Wird es Ihnen eigentlich nie über, mich herumzukommandieren?«
»Wird es Ihnen eigentlich nie über, sich in Ihrem Schlafzimmer zu verstecken?«, schoss Anne zurück.
»Ich verstecke mich nicht.«
»Das würden Sie aber, wenn ich es zuließe.«
»Ich habe alles getan, worum Sie mich gebeten – nein, was Sie mir befohlen haben.«
»Und Sie haben die ganze Zeit darüber gemeckert.«
Es brachte nichts. Anne war wie ein Fels, und Argumente prallten von ihr ab wie Regentropfen von Beton. Sie hörte genauso wenig auf Sam wie Jackson und ihr Vater. Sam spürte, wie Hoffnungslosigkeit sie überwältigen wollte.
Plötzlich hörte man eine Frau unten am See kreischen und gleich darauf eine tiefe Baritonstimme: »Fass ihn doch einfach nur an.«
Sie richtete ihre Aufmerksamkeit zur offenen Verandatür.
»Nein«, schrie die Frau. »Der zappelt ja.«
»Na komm schon«, erwiderte ihr männlicher Begleiter. »So groß ist er doch gar nicht. Nur zwanzig Zentimeter.«
Aus den Augenwinkeln sah Sam es um Annes Mundwinkel zucken. »Mein Gott, ich hoffe doch, er redet von einem Fisch.«
Ein absurdes Bild schoss Sam durch den Kopf, und etwas sprudelte in ihr hoch und vertrieb die Hoffnungslosigkeit. Es war so fremd für sie, dass sie vergessen hatte, wie es sich anfühlte. Zum ersten Mal, seit sie sich erinnern konnte, lachte sie.
Als Sam den Schotterweg entlangging, fühlte die Sonne im Nacken sich gut an, aber sie würde Anne nicht die Befriedigung gewähren, das zuzugeben. Der vom See heranwehende Wind trug den Duft von Kiefern und Geißblatt heran. Vor ihnen tanzte eine Wolke von Mücken in der Luft. Wäre Anne nicht bei ihr gewesen, hätte sie vielleicht Halt gemacht, damit die Sonne in ihren Körper eindringen und die ewig kalte Stelle tief in ihrem Inneren hätte wärmen können.
Aber wenn Anne nicht bei ihr wäre, wäre sie ganz allein im Freien, nicht mehr durch vier sichere Wände geschützt. Draußen, wo jeder sie finden konnte. Der kalte Fleck in ihrem Inneren wuchs, und ihre Schritte stockten.
Anne bemerkte es und blieb stehen. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«
Sie antwortete nicht und ging weiter.
In zwei langen Schritten war Anne wieder bei ihr und atmete die nach Kiefern duftende Luft tief ein. »Fühlen wir uns hier nicht besser?« Sie klang wie eine Erwachsene, die mit einem kleinen Kind redet. »Hier draußen in der frischen Luft und in der Sonne? Ist das nicht besser, als drinnen im Haus zu hocken?«
»Schauen Sie mal, Schwester Nancy, kommen Sie mir nicht so von oben herab«, knurrte Sam. »Es gibt kein ›wir‹. Da sind Sie, und da bin ich.«
Anne schüttelte den Kopf und passte ihr Marschtempo Sams langsameren Schritten an. »Sie sind aber
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