Wach nicht auf!: Roman (German Edition)
Stühle in dem winzigen Wartebereich.
Zwei der Stühle waren von zwei Frauen besetzt … möglicherweise Mutter und Tochter. Sie erinnerten Sam an die Freundinnen ihrer Mutter – schick aufgemacht und elegant strahlten sie unverkennbar Wohlstand und Privilegiertheit aus. Als der Blick der älteren Frau dem Sams begegnete, beugte sie sich vor und flüsterte ihrer Begleiterin etwas zu. Die beiden redeten über sie, dachte Sam mit einsetzender Panik.
Anne packte Sam einen Augenblick lang fester am Arm, als sie zu den beiden hinübersah. »Hallo, Irene. Hallo, Kimberly«, sagte sie mit einem kurzen Lächeln und führte Sam zum Stuhl.
Mit einem gemurmelten »Hallo, Anne« erwiderten die Frauen ihr Lächeln und begannen dann wieder zu flüstern.
Durch diese kühle Reaktion nicht aus der Fassung gebracht, ließ Anne Sam los, nahm eine Zeitschrift und legte sie ihr in den Schoß.
»Hier. Lesen Sie das«, sagte Anne, drehte sich um und ging zum Empfang. Sie beugte sich vor und redete leise mit der jungen Frau, die hinter der Theke stand.
Ein Ansatz von Neid stieg in Sam auf, als sie Anne beobachtete. Sie betrachtete die langen, gebräunten Beine, die muskulösen Unter- und Oberarme und den langen, blonden Zopf, der ihr den Rücken hinunterhing. Annes Kraft und Schönheit kamen ohne Kunstgriffe aus. Sam sackte auf ihrem Stuhl zusammen. Mit ihrem kaputten Bein und dem mageren Körper fühlte sie sich im Vergleich zu Anne nichtssagend und bedeutungslos. Mit gesenktem Kopf spähte sie aus den Augenwinkeln nach den beiden Frauen neben sich. Die Stimmen waren so leise, dass sie die Worte nicht verstehen konnte. Verglichen die beiden sie mit Anne? Sie packte die Armlehne ihres Stuhls fester. Taten alle Frauen im Salon dasselbe?
Wolken von Haarspray und der Geruch von Ammoniak und anderen Chemikalien schienen zu Sam herüberzuwehen, während sie versuchte, sich auf etwas anderes als die beiden Frauen zu konzentrieren. Ein Teil von ihr wollte näher heran, um zu hören, was sie vermutlich über sie sagten, aber ein anderer Teil ihrer selbst wollte weglaufen, ohne sich noch einmal umzublicken. Sie rutschte unbehaglich auf dem Stuhl herum, so dass ihr fast die Zeitschrift vom Schoß geglitten wäre. Sie fing sie auf und blätterte die Seiten rasch durch, bemüht, sich zu beruhigen.
Denk über die letzten Wochen nach , forderte sie sich auf. Sie hatte Anne ja tatsächlich ihre Mitarbeit versprochen, aber ihre Therapie fühlte sich allmählich wie ein militärisches Ausbildungslager an. Schwester Ratched, wie sie Anne inzwischen im Stillen nannte, hatte sich den Arsch aufgerissen. Jedes Mal, wenn Sam fünfe hatte gerade sein lassen wollen, hatte Anne sie zur Ordnung gerufen. Mit ihrer Unerbittlichkeit hatte Anne sie stetig angetrieben. Sams Augen wanderten von der Zeitschrift zu ihrem linken Bein.
Du magst ihre Methoden nicht, aber sie wirken , sagte eine Stimme in ihrem Kopf. Ihr Bein war kräftiger geworden – nicht sehr viel, aber ein bisschen. Die Sitzungen mit Anne hatten sie weiter gebracht als die monatelange Therapie in Minneapolis. Sie würde es Anne gegenüber nicht zugeben, aber sie war zufrieden, auch wenn sie jeden Abend erschöpft ins Bett gefallen war. So erschöpft, dass sie die halbe Zeit vergessen hatte, das neu von Jackson verschriebene Medikament zu nehmen. Diese Nachlässigkeit hatte nur das Ausbleiben von Albträumen zur Folge gehabt – sie war vermutlich zu müde zum Träumen.
Sie vergaß ihre Zeitschriftenlektüre und ließ die Augen durch den kleinen Schönheitssalon wandern. Ein paar ältere Damen mit winzigen Lockenwicklern im Haar saßen unter Trockenhauben und überflogen die neuesten Skandalblättchen. Zwei Friseusen arbeiteten eifrig an ihren Bedienplätzen. Am einen saß ein kleines Mädchen im hochgestellten Sessel, und die Friseuse schnitt ihr den Pony. Am anderen wurde das bläulich graue Haar einer älteren Dame frisiert. Die Friseuse, deren eigene blondierte Locken dem Ausdruck Haarvolumen eine völlig neue Bedeutung verliehen, schwatzte pausenlos, während sie am Kopf ihrer Kundin herumzupfte. Vor dem großen Spiegel standen hinter ihr Pudelfigürchen auf der Ablage. Größere und kleinere, und zwar nicht nur an ihrem Bedienplatz, sondern auch auf dem Empfangstresen und in dem Regal mit den Haarpflegeprodukten. Bilder dieser Hunde hingen an den Wänden. Überall, wo Sam hinschaute, sah sie Pudel.
Die Worte eine Meute von Pudeln kamen Sam in den Sinn, und sie spürte eine neue Angstwelle.
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