Wach nicht auf!: Roman (German Edition)
empfindlich.«
»Ich habe das Recht dazu«, schoss Sam zurück.
»Das mag sein«, meinte Anne, die Kiefern ins Auge fassend, die am Weg entlang wuchsen. »Aber eine gute Einstellung kann die Heilung des Körpers beschleunigen.«
Sam zog eine Augenbraue hoch. »Noch so ein Vortrag über meine innere Haltung? Sie spielen aber wirklich gerne die Amateurpsychologin, oder?«
»Nein, aber ich habe mit Patienten gearbeitet, die Traumata erlitten haben, und ich weiß, wie das die Psyche runterziehen kann«, erwiderte Anne ruhig. »Dr. Van Horn hat mir von dem Überfall auf Sie berichtet.«
»Wenigstens sprechen Sie nicht von einem ›Unfall‹«, murmelte Sam mit gesenktem Kopf.
»Wie bitte?«
»Nichts.« Sam blickte noch immer zu Boden. »Ich möchte nicht darüber reden.«
Anne überging ihren Wunsch. »Er sagte, es sei zwei Wochen vor Ihrer geplanten Hochzeit passiert, und …«
Sams Füße kamen auf dem Kies zu einem abrupten Halt. »Ich hatte gesagt, ich möchte nicht darüber reden.«
»Reden hilft aber. Es ist nicht gut, das alles in sich reinzufressen.«
»Ha«, schnaubte Sam wütend. »Woher wollen denn Sie das wissen?«
Anne hob eine Schulter. »Ich habe auch meine Probleme gehabt … vielleicht nicht wie Ihre …« Sie hielt inne, als wägte sie ihre Worte ab. »Bevor wir hierhergezogen sind«, fuhr sie fort, »hatte mein Sohn sich schlechten Freunden angeschlossen, und …«
Sams Hand flog zu ihrer Kehle. »Schlechte Freunde? Was heißt das? Ihr Sohn hat einer Gang angehört?«
Eine Gang hatte ihr Leben ruiniert, und jetzt war da eine Frau, deren Sohn genauso schlimm war. Ihr Herz hämmerte. Sie musste sofort ins sichere Haus zurück.
Abrupt machte sie auf dem Absatz kehrt und stolperte, doch Anne streckte die Hand aus und gab ihr Halt.
»Mein Sohn war in keiner Gang, noch nicht …« Sie stockte. »Eine Freundin – eine Kollegin im Krankenhaus – hat sich die Zeit genommen, mir zuzuhören.« Anne ließ Sams Arm los. »Sie hat mir vorgeschlagen, an den See zu ziehen, und das hat uns gerettet. Vielleicht wird es auch Sie retten.«
»So einfach ist das nicht …« Sams Hand wanderte zu ihrem schwachen Bein. »Ich habe alles verloren.«
»Sie sind noch immer am Leben, oder?«
Sam spürte, wie die Bitterkeit aus der kalten Stelle in ihrem Inneren hervorkroch. »Wenn Sie das hier Leben nennen – ich nicht.« Sie trat einen Schritt vor. »Ich möchte ins Haus zurück.«
»Nein«, entgegnete Anne, ergriff Sam erneut sanft beim Arm und drehte sie um. »Sehen Sie das Häuschen am Ende der Straße? Heute gehen wir bis da … und morgen ein Stückchen weiter.«
»Warum müssen Sie mich ständig triezen?«
Anne versetzte ihrem Arm einen kleinen Ruck. »Ich bin dafür eingestellt worden, Ihnen zu helfen, und das werde ich auch tun.«
»Für einen einzigen Tag habe ich schon genug Hilfe genossen.«
»Das sehe ich anders«, erwiderte Anne und zog erneut an Sams Arm. »Kommen Sie, gehen wir weiter.«
Sam entwand sich Annes Griff. Wieder ein Kampf verloren. Na gut, dachte sie, sie würde bis zu dem verdammten Nachbarhaus gehen. Aber auch wenn sie ihre Mitarbeit zugesagt hatte, musste sie doch irgendwo eine Grenze ziehen. Anne übernahm die vollständige Kontrolle über ihr Leben, dabei reichte Sam schon die Einmischung seitens ihres Vaters und Jacksons. Den nächsten Kampf würde Anne nicht gewinnen. Mit einem Gefühl der Entschlossenheit, wie sie es schon lange nicht mehr empfunden hatte, ging Sam energisch los. Die andere Frau folgte ihr.
Als sie sich dem Haus näherten, stürzten zwei Hunde zu dem Maschendrahtzaun, der das Grundstück umschloss, und schreckten Sam auf. Sie blieb stehen, während die Hunde bellend herumtanzten. Hinter ihnen in einer abgelegenen Ecke erspähte sie einen weiteren Hund, der neben einem Baum kauerte. Er hatte die Ohren flach an den Kopf gelegt und schaute mit gehetzten Augen in die Welt, als erwarte er, jeden Moment Prügel zu bekommen. An den Hinterbacken waren rosa Hautflecken zu sehen, und selbst auf diese Entfernung konnte sie jede Rippe des armen Tieres erkennen. Sie dachte an Alices verwöhnte Pudel. Dieser Hund war nie im Leben verwöhnt worden.
Plötzlich heftete sich der Blick des Hundes auf sie, und im selben Augenblick zuckte die Situation im Parkhaus wieder vor ihrem inneren Auge auf, und sie sah sich selbst auf den Knien liegend um ihr Leben flehen. Gedemütigt und zu verängstigt, um sich zu bewegen – genau wie dieser Hund. Das ist nicht gerecht –
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