Wachkoma
waren es nur noch einzelne Eisschollen unter ihren Füßen, die aussahen, alshätten sie nie wirklich zusammengehört.
Beata spürte eine erstickende Stille, gefolgt von einem panischen Herzschlag – der Ohnmacht ganz nahe. Ihre Gedanken entglitten ihr und wurden verdrängt von der eisigen Kälte des Wassers. Und ihrer Fantasie entsprangen grausame Befürchtungen – drohten Wirklichkeit zu werden in nur zehn oder vielleicht zwanzig Sekunden.
Ein lähmender Schmerz stieg schließlich in ihr empor und drohte sie zu ersticken. Doch ihr Körper ließ sie nicht los. Regungslosigkeit in knapp zwei Metern Tiefe.
Beata war gefangen unter den riesigen Eisschollen – ohne ein Entrinnen. Grausame Befürchtungen wichen schließlich der Erkenntnis. Und Beata war regungslos, doch wollte sie so sehr leben!
Zeit und Raum verloren sich im Nichts. Ihr Leben zog an ihr vorüber. Die Wirklichkeit hatte gesiegt. Wärme und absolute Glückseligkeit durchströmten ihr Sein. Ohne Entsetzen, ohne Befürchtungen, sondern wissend. Wissend, wohin sie jetzt gehen würde. Denn der letzte Blick auf ihre reglos schwebende Hülle brachte ihr schließlich die lang ersehnte Erkenntnis.
Und sie lief durch das große Tor, wie die vielen Male zuvor, wenn sie meditiert hatte.
Beata konnte sich nicht mitteilen, konnte nicht sagen, dass sie wach war. Doch sie hörte, was ihre Mutter zu ihr sprach. Und hielt ihre Augen weiter geschlossen, während die Stimme ihrer Mutter immer klarer wurde.
***
Beatas Mutter hatte den Telefonhörer aufgelegt. Sie würde es später noch einmal im Büro ihrer Tochter versuchen.
Dieser neue Sekretär hatte sie an diesem Vormittag nämlich schon das zweite Mal auf höchst unverschämte Art und Weise abgewimmelt. Das musste sie Beata beim nächsten Telefonat unbedingt mitteilen.
Sie ging wieder zurück in die Küche und bereitete alles für Kaffee und Kuchen vor. Eine alte Freundin hatte sich zu einem Plausch angekündigt.
Als kurze Zeit später das Telefon klingelte, vermutete Beatas Mutter zuerst, dass ihre Freundin vielleicht absagen würde, und lief schnell zum Telefon, um den Anruf nicht zu verpassen. Sie hob den Hörer ab, doch es war nicht ihre Freundin, die am anderen Ende zu ihr sprach, sondern der Sekretär ihrer Tochter.
Nur eine halbe Stunde später ließ sie der Taxifahrer am örtlichen Krankenhaus heraus.
Am Empfang schnaufte sie abgehetzt: „Ich muss sofort zu meiner Tochter! Ihr Sekretär rief mich an und sagte mir, sie wurde vor einer halben Stunde mit einem Herzinfarkt eingeliefert!“
Als sie Beata mit all den Schläuchen auf der Intensivstation liegen sah, überkamen sie die Tränen.
Die ganze Fahrt über hatte sie sich bereits zu Tode gesorgt.
Ihr einziges Kind lag nach einem Herzinfarkt im künstlichen Koma und sie konnte ihr nicht helfen und durfte nicht einmal lange zu ihr.
Wie der Arzt ihr mitteilte, war es laut Aussage der Kollegen während eines Meetings passiert.
„Ihre Tochter ist einfach umgefallen.“
Als die Mutter abends wieder zu Hause ankam und sich wie benommen an den eingedeckten Kaffeetisch setzte, war ihr noch immer nicht bewusst, dass sie vergessen hatte, ihrer Freundin abzusagen. Sie hatte schließlich direkt ein Taxi gerufen, um sich so schnell wie möglich über den Zustand ihrer Tochter zu vergewissern.
An diesem Abend sollte sie diese Benommenheit bis in den Schlaf begleiten. Und dieser kam auch nur durch die Schlaftabletten, die sie eingenommen hatte.
***
Fast täglich besuchte sie Beata im Krankenhaus. Sie wollte unbedingt da sein, wenn sie aufwachte.
Beata war zwischenzeitlich auf ein Dreibettzimmer verlegt worden, in dem ein Bett am Morgen jedoch plötzlich leer war, sodass nur noch eine junge Frau mit auf dem Zimmer ihrer Tochter lag.
Diese war noch jünger als Beata.
Sie war vielleicht Anfang dreißig. Vielleicht auch Ende zwanzig. Sie war auffallend schlank und hatte langes, blondes Haar.
Die Schwester sagte, sie liege im Wachkoma und das schon sehr lange. Sie wolle irgendwie nicht so recht zurück in ihr altes Leben, sei wie hin- und hergerissen.
„Es ist traurig. Sie ist so jung und hat dieses Zimmer die letzten Jahre höchstens im Geiste verlassen. Und das wird wohl auch noch eine ganze Weile so bleiben.“
Beatas Mutter konnte sich anfangs kaum an ihren Anblick gewöhnen, lernte jedoch, sich zusammenzureißen, wenn sie morgens das Zimmer betrat.
An diesem Morgen verunsicherte sie jedoch etwas anderes: nämlich das plötzlich leer stehende
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